Inhalt

Der Bandtitel Politische Dimensionen von Kinder- und Jugendmedien formuliert die Annahme, dass Kinder- und Jugendmedien politische Dimensionen innewohnen. So betont die Herausgeberin Caroline Roeder einleitend, dass generell eine Hinwendung zu politischen Themen in Literatur (und damit verbundenen Medien) zu beobachten sei, wobei "ein Blick in die Kinder- und Jugendliteraturforschung zeigt, dass zwar ein breites Spektrum an politischen Themen untersucht wird, jedoch eine dezidierte Auseinandersetzung mit Fokus auf politischer Kinder- und Jugendliteratur (und -medien) fehlt" (S. 1–2). Dies betreffe nicht nur aktuelle Debatten, sondern den gesamten Gegenstand der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) (vgl. S. 2). Der Band schließt diese Lücke, indem ideologische Fragen aus literaturhistorischer Perspektive  unter Berücksichtigung zeitgenössischer theoretischer Rahmungen beleuchtet werden (vgl. S. 2).

Julia Benner lädt im ersten Beitrag des Bandes, "Radikal – engagiert – proletarisch-revolutionär? Begriffe des Politischen in den Kinder- und Jugendliteraturwissenschaften" zur Diskussion der Begriffsdefinition politischer KJL ein. Sie betont, dass in der Diskussion um politische Kinder- und Jugendliteratur meist nur links engagierte Literatur angeführt werde (S. 14). Darüber hinaus lasse sich in der deutschen Forschungslandschaft eine "Nicht-Rezeption von radical children's literature" beobachten (S. 15). Zudem erwähnt Benner in einer Fußnote, dass es aufgrund der unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Ausgestaltung sinnvoll sei, nicht nur Erwachsenenliteratur von der KJL zu unterscheiden, sondern auch die jeweiligen literaturwissenschaftlichen Ausprägungen. Dieser Hinweis kommt vor der Frage nach einer politischen Dimension in der KJL eine besondere Bedeutung zu: Wie wirkt eine Literaturwissenschaft der spezifischen, altersabhängigen Forschungsgegenstände auf die Analyse politischer Debatten ein? Wenngleich diese Frage im Band unbeantwortet bleibt, laden die folgenden Beiträge dazu ein, Benners Forderung gerade für eine kontextorientierte Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft ernst zu nehmen. 

Der Band ist in 6 Teile gegliedert. Der erste Teil "Politische Positionsbestimmung" beinhaltet neben Benners Beitrag eine Auseinandersetzung Caroline Roeders mit den Felddynamiken der Kinderliteratur der 1960er- und 1970er-Jahre. Im Fokus stehen Günter Herburgers Birne-Bände (1970-1996), die sie in Rahmen von Gattungsdiskussionen beziehungsweise Entwicklungen der KJL seit den 2000er-Jahren untersucht. 

Im zweiten Teil, "Historisch-politische Koordinaten", bieten fünf Beiträge Betrachtungen verschiedener Medien aus dem Zeitraum 1900-1945. Zunächst untersucht Helga Karrenbrock die Beziehung und gegenseitige Einflussnahme der Kunstschaffenden Asja Lacis und Walter Benjamin bezogen auf die Entwicklung des proletarischen Kindertheaters. Daran schließt zeitlich Geralde Schmidt-Dumont an. In ihrer Analyse ausgewählter Werke der Kinder- und Jugendliteratur 1900 bis 1933 erarbeitet sie der Entwicklungsgeschichte der Tierschutzbewegung bereits während der Hochzeit des Kolonialismus. So präsentiert sie historische Perspektiven auf die Beziehung zwischen Mensch und Tier als "[i]deologische Voraussetzungen” der heutigen Animal Studies, die sie wiederum als eine der "gesellschaftlichen Aufgaben" der Kultur- und Geisteswissenschaften beschreibt (S. 62). Susanne Blumesberger argumentiert, dass die Erforschung der KJL zwischen 1933 und 1945  in Österreich lückenhaft sei, wenngleich sich verschiedene Projekte vermehrt des Thema annähmen (S. 79-81). Sie bietet eine Definition und Textanalyse politisch aufgeladener Literatur in Abgrenzung zum Nationalsozialismus an. Ebenfalls des österreichischen Feldes nimmt sich Ernst Seibert an. Er widmet sich den politischen Entwicklungen Österreichs und deren Einfluss auf die KJL sowie deren Rezeption durch das nationalsozialistische Regime. Die Rezeption eines einzelnen Werkes, Wilhelm Speyers Kampf der Tertia (1928), beleuchtet Marlene Antonia Illies in ihrer Analyse der von Widersprüchen geprägte Geschichte des indizierten jüdischen Autors. Speyer wurde vorgeworfen, Kampf der Tertia verherrliche eine stark hierarchisch geprägte Gesellschaft, auch im nationalsozialistischen Sinne. Illies zeigt schlüssig auf, dass die Rezeptionsgeschichte der Tatsache, dass der literarische Text durch inhaltliche Änderungen einer nationalsozialistischen Ideologie angepasst wurde, nicht Rechnung trug. 

Im dritten Teil "Jugend Bewahren" bietet Stefan Born eine literaturhistorische Abhandlung der Kritik an der politischen Dimension der Komik in Lehrbüchern und Schuldramen des Autors Christian Weises. Piet Mooren untersucht, wie den "Parolen und Echos von Anne Frank" und Darstellungen des Nationalsozialismus in verschiedenen Texten nachzuspüren sei. Er fokussiert sich auf die Lebensgeschichten der jüdischen KZ-Überlebenden Anita Roos und Renée Moser, Werke Mirjam Presslers oder die Graphic Novel-Adaption von Anne Franks Tagebuch durch Ari Folman und David Polonsky. Anna Lehninger stellt in einen Gesamtüberblick der Schweizer Zeitschrift Jugendwoche in Abgrenzung zu anderen Angeboten von Jugendzeitschriften vor und greift zur Analyse insbesondere Warja Lavaters visuelle Arbeit dafür heraus. Der Diskursanalyse der Darstellung Afrikas beziehungsweise der Bewohner*innen des Kontinents nimmt sich Alain Belmond Sonyem an. Die Fragestellung untersucht, die Beziehung des Diskurs politisch korrekter KJL mit sogenannten Afrikabüchern. Unter besonderer Berücksichtigung Untersucht wird die Durchbrechung rassistischer und stereotypisierender Darstellung von "Afrika-Literatur" in der Geschichte des Kindebuchfonds Baobab. Auch Andre Kagelmann nähert sich diskursanalytisch dem Spannungsfeld der politischen Erziehung an. Der Beitrag "'Unwissenheit ist Stärke'. Über das (Un-)Politische in der Jugendliteratur am Beispiel der 'Anti-AfD-Romane' Endland von Martin Schäuble und Der Schuss von Christian Linker" untersucht das Verhältnis von Ästhetik, Didaktik und Politik. 

Der vierte Teil "Politisch konturierte Anders-Welten" umfasst Beiträge zu Lord of the Rings, Utopien, Harry Potter oder sogenannten shadow narratives. Arno Meteling formuliert in seiner Analyse Lord oft the Rings die These, dass epischer Fantasy immer eine politische Dimension innewohne. Das treffe gerade dann zu, wenn keine Referenzialität zur außerliterarischen Welt herzustellen sei, da die Werke dann Handlungsschablonen böten. Babenhauserheide und Krämer diskutieren zunächst mediale Diskurse über politische KJL, wobei sie herausarbeiten, dass darauf eher Buchmarketing als wissenschaftliche Erkenntnisse einwirken. Dies ist für ihre anschließende Analyse der Harry Potter-Heptalogie insofern relevant, als ausgehend von der kritischen Theorie untersucht wird, wie die Lektüre Annahmen zu (politischer) KJL zuwiderlaufen kann. Weiter beschäftigen sich zwei Beiträge mit Utopien. Maren Conrad vergleicht die politische Dimension der Werke Störfall (1987)  Christa Wolfs und Die Wolke (1987) Gudrun Pausewang. Zwei Jugendbücher, die als Reaktion auf das Tschernobyl-Unglück von den Autorinnen verfasst wurden. Peter Rinnerthaler wirft neues Licht auf das Diversitätspotenzial ausgewählter Wimmelbilderbücher. Nadine Bieker bietet eine praxisbezogene Einführung zu Russel Reisings Begriff shadow narratives. Ausgehend von den Erkenntnissen der Gender Studies widmet sie sich in der Analyse von shadow narratives in den Adoleszenzromanen Es bringen (2014) von Verena Güntner, Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt (2015) von David Levithan, Das Ende von Eddy (2015) von Édouard Louis und Rabensommer (2015) von Elisabeth Steinkellner. 

Im fünften Teil, "Mediale politische Formatierungen", bieten vier Beiträge diverse thematische Zugänge zum Thema. Zunächst untersucht Petra Josting, ob sich aus Fritz Genschows Rotkäppchen-Verfilmung ableiten lässt, dass der Künstler Sympathien für den Nationalsozialismus gehegt habe. Auch Thorsten Hindrichs beschäftigt sich mit der Frage, wo die Grenze zu rechten Akteur*innenschaften liegt. Er stellt fest, dass das Bild rechter Musikbewegungen, konkret der Einstiegsdroge Rechtsrock, zugunsten der Szene verklärt sei, da Jugendliche verschiedene Prozesse der Radikalisierung durchlaufen könnten, die oftmals schon vor dem Musikkonsum ansetzen. Ingrid Tomkowiak untersucht ebenfalls ein soziokulturelles Narrativ. Sie bietet neben einer ausführlichen Darlegung der Historie Einblicke in die Reproduktion diskriminierender gesellschaftlicher Verhältnisse in staatlichen Aufklärungsbroschüren und -filmen (1945 und 1970 hauptsächlich für Kinder und Jugendliche). Schließlich untersucht Natalie Borsy, wie Steampunk seit seiner Entstehung einen eigenen Diskurs zur Beziehung von Mensch und Technik in verschiedenen Medien schafft. 

Der abschließende sechste Teil "Im Gespräch" umfasst Felix Giesas Interview mit der Biographin Ingeborg Gleichauf zu ihren Arbeitstechniken. Dem Interview vorangestellt ist Giesas Einführung zur Autorin.

Kritik 

Die Bandbeiträge loten aus, welche politischen Dimensionen Kinder- und Jugendmedien zukommen und zum Teil auch, welches Wirkungspotenzial sich dabei entfaltet. Die meisten Beiträge bieten eine ausgewogene Darstellung der Veröffentlichungen und Rezeptionsentwicklung verschiedener historischer Entwicklungen bis hin zur Gegenwart. Mehrere Beiträge bieten die Möglichkeit, sich in die durch den Nationalsozialismus verdrängten oder geförderten Werke beziehungsweise Kunstschaffenden einzulesen und deren Rolle im kulturellen Feld auch nach 1945 zu erfassen. Manche Beiträge sind eher essayistisch angelegt; eine stilistische Freiheit, die die Leseerfahrung bereichert. Kritisch ist diese stilistische Freiheit dann zu betrachten, wenn gelungene Beiträge sich in Stellungnahmen verlieren. Dies passiert etwa, wenn sich z. B. ob des Themas breitere Diskussionen der Rolle von Kultur im (aufkommenden) Nationalsozialismus angeboten hätten oder wenn misslungene Bemühungen politisch korrekter Literaturlisten etwa in Sonyems schlüssiger Analyse ohne nähere Erläuterung als "Zensurinitiativen" (S. 173) bezeichnet werden. Gleichzeitig zeichnen sich die abwechslungsreichen Beiträge allesamt durch gründliche Recherche und ausgeprägte Fachkenntnis aus.

Fazit

Der Band bietet einen Einblick in das theoretische Rahmenwerk des Forschungskomplexes "politische Kinder- und Jugendliteratur". Die Beiträge werden durch die einführenden Auseinandersetzungen von politischer KJL von Benner und Roeder produktiv eingebettet. Dabei bieten die einzelnen Beiträge Diskussionen und Darstellungen verschiedener Medien. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beziehungsweise Tendenzen zur rechten Radikalisierung überwiegen und verweisen auf ein Forschungsdesiderat. 

 

Titel: Parole(n) - Politische Dimensionen von Kinder- und Jugendmedien
Herausgeber:
  • Name: Caroline Roeder
Erscheinungsort: Stuttgart
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: J.B. Metzler
ISBN-13: 978-3-476-04847-9
Seitenzahl: 335
Preis: 59,99€
Buchcover des Sammelbands Parole(n) - Politische Dimensionen von Kinder- und Jugendmedien