Inhalt

Der mittlerweile neunte Band der Reihe Literatur – Medien – Didaktik konzentriert sich in vier thematisch gegliederten Teilen auf verschiedene Erscheinungsformen des unzuverlässigen Erzählens in unterschiedlichen Texten und weiteren Medien und betrachtet diese aus einer klar transmedialen Perspektive. Neben traditionell printmedialen Erzählformaten werden unzuverlässige Erzähltechniken in Bild-Text-Medien, Hörspielen, Filmen sowie Computerspielen und Ausstellungsformaten untersucht. Zunächst erfolgt eine enge Analyse dieser Phänomene im jeweiligen Medium selbst, bevor in Unzuverlässigkeitssignalen, wie intermodalen Widersprüchlichkeiten oder Unstimmigkeiten einer eigenwilligen oder gar täuschenden Erzähler*in,  didaktische Potenziale auf der Ebene der Rezeption erkundet werden.

Den Erkundungen stellt Sebastian Bernhardt als Herausgeber des 524 Seiten starken Sammelbandes eine theoretische Einordnung des Phänomens voran, wobei zunächst Ursprünge und Diskussionsansätze zur erzählerischen Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit plausibilisiert werden, woraufhin eine sehr eingreifende Kritik an bestehenden narratologischen und didaktischen Sichtweisen auf Unzuverlässigkeit entfaltet wird. Im Zentrum steht eine von Bernhardt herausgearbeitete Schwierigkeit, die ihm zufolge darin besteht, dass in narratologischen Analysen ein*e Modell-Rezipient*in eingezogen werde, durch welche*n es zu einer fehlenden Präzision in den Analysen und narratologischen Theorien komme. So werde häufig angenommen, die Leser*innen würden sich täuschen lassen oder es werden Beobachtungen angestellt, denen zufolge die Leser*innen bestimmte Dinge erst spät erfahren könnten. An diesem Befund moniert Bernhardt, dass damit die Wahrnehmung literarästhetischer Unzuverlässigkeit oftmals auch vorschnell festgelegt würde, denn ob eine unzuverlässige Erzählinstanz wirklich als solche erkannt wird, erweise sich als stark rezipient*innenabhängig. Bernhardt befürchtet daher eine Verengung des Blicks auf das vermeintliche Weltwissen eines akademischen Leser*innen-Ichs und betont die für eine mögliche didaktische Betrachtung zunächst notwendige Trennung zwischen Gegenstand und kognitiver Verarbeitung einer tatsächlichen Rezipient*innensicht. So gilt es ihm zufolge zunächst, Unzuverlässigkeitssignale zu erkennen, die möglicherweise das Potenzial bieten, in Irritationsmomenten einen kritisch hinterfragenden Rezeptionsmodus herbeizuführen. Dass die Art und Weise der Darstellungen in kinder- und jugendliterarischen Medien Irritationspotenzial haben, zeigen die insgesamt 18 transmedialen, symmedialen sowie transgenerischen Beiträge, auf die hier nur verkürzt verwiesen werden kann:

Sektion 1 versammelt Phänomene unzuverlässigen Erzählens in Bild-Text-Medien. Hier systematisiert Eva Pertzel anhand ausgewählter Bilderbücher gegenstandsseitige Unzuverlässigkeitssignale, die auch im frühen Literaturunterricht die Aufmerksamkeit auf den discours lenken und zur Ausprägung einer kritisch reflektierenden Rezeptionshaltung beitragen können. Dass Kinder im Grundschulter in der Lage sind, literarästhetische Unzuverlässigkeit zu erkennen, kritisch zu lesen und zu denken, zeigen Astrid Henning-Mohr und Nadine Naugk an einem Bilderbuchgespräch mit Anschlusskommunikation auf. Weitere Signale für die erfahrbare Unzuverlässigkeit auf Bildebene plausibilisieren Dilara Demirdögen und Antje Arnold am postmodernen Bilderbuch und schlagen ein lesepsychologisch immersives Konzept des entdeckenden Lesens vor, das im Wechselspiel von Verweilen und mehrmaligem, non-linearen Rezipieren — evoziert durch Irritationsmomente — automatisierte Verstehensprozesse aufzustören vermag. Am bebilderten Kinderroman erschließt Monika Hernik Chancen einer Wahrnehmungsförderung mittels Unzuverlässigkeitsmarkern im multimodalen Erzählen von Bild und Text auch für den frühen Literaturunterricht. Dieses Wechselspiel machen sich auch Carolin Führer und Lukas R.A. Wilde zu Nutze und zeigen, welche spezifischen Möglichkeiten der Ausgestaltung von erzählerischer Unzuverlässigkeit der Comic bietet. Lektüreinterviews und Laut-Denk-Protokolle von Grundschüler*innen verweisen auf Vorwissen sowie die heterogene Immersions- und Imaginationsfähigkeit der Rezipient*innen, die für die Erfahrbarkeit von grafischer Unzuverlässigkeit entscheidend sind und in didaktischen Implikationen zentral in den Blick genommen werden müssen.

Sektion 2 fokussiert das unzuverlässige Erzählen in narrativen Texten. An einem als klassisch unzuverlässig geltenden Text (Fühmanns Judenauto, 1962) systematisieren Achim Barsch und Christoph Müller zwischen interaktions- und äußerungsbezogenen Indikatoren unzuverlässigen Erzählens, die auf Basis der Grice´schen Konversationsmaxime (1979) als Brüche gelesen werden können. In Anschlusskommunikationen einer Störfalldidaktik spüren Schüler*innen in Themenkreisen wie „Erzählen als soziale Handlung“ (S. 200) den Erzählintentionen der Figuren nach oder unterziehen Textpassagen von Figurenrede einer intensiven Plausibilitätsprüfung. Auch an populärkulturellen Stoffen wie Krachts Faserland (1995) lassen sich über Selbstzuschreibungen eines unzuverlässigen Ich-Erzählers Widersprüche und Mehrdeutigkeiten festmachen, die zur Wahrnehmung von Figurenkonzeptionen zwischen Fremd- und Eigencharakterisierung einladen, wie Jens Liebich in seinem Beitrag zeigt. Ines Heiser plausibilisiert anhand der ebenfalls als populärkulturell zu bezeichnenden Krimireihe A Good Girls's Guide to Murder (Jackson 2019-2022), dass Lesende formale Unzuverlässigkeit als Mitratende akzeptieren, solange dem Erzählten ein stimmiger, zuverlässiger Weltentwurf zugrunde liegt. Dass auch die Darstellungen von Zeitzeug*innen unzuverlässig sein kann, arbeitet Merit Meyer in Beyers Flughunde (1995) heraus und zeigt mittels Umsetzung im Literaturunterricht der gymnasialen Oberstufe Potenziale auf, das Bewusstsein für die Perspektivgebundenheit historischer Wahrnehmung in fiktionalen Texten zu schärfen.

Eine Systematik medienspezifisch unzuverlässigen Erzählens im Hörspiel entwickelt Sebastian Bernhardt in Sektion 3 zu unzuverlässigem Erzählen in Populärmedien. Unzuverlässig erzählte Hörphänomene wie stimmliche Ausdrucksvarianzen, Markierungen durch extradiegetische Musik oder intermodale Widersprüche auf der Ebene der Sonosphäre sprechen vielfältige Wahrnehmungskanäle an, die ein Bewusstsein für multimodale Unzuverlässigkeit im Hörspiel herbeiführen. Dabei exponiert er auch die Größe der Aurikularisierung, die einer Art sonosphärischer Fokalisierung gleicht und entsprechend gerade im Kontext hörspielerischer Unzuverlässigkeit zentral ist. Auch der Film bietet multimodale Möglichkeiten mittels filmsprachlicher Mittel den Konstruktcharakter von Filmtexten aufzudecken, so Swen Schulte Eickholt. Neben der Inhaltseite lassen sich hier insbesondere spezifische Filmmittel wie Einstellungsgrößen oder Kameraperspektiven als subjektive Ausgestaltungen der Filmfiguren selbst lesen. Kjara von Staden und Andy Sudermann widmen sich populärkulturellen Romanen und deren Serienadaptionen und nehmen transmediale Signale von Unzuverlässigkeit als Diskussionsgrundlage zur Erörterung von literarästhetischer Perspektivierung und damit einhergehender Rezipierendenlenkung.

Die letzte und vierte Sektion des Bandes verdeutlicht, dass auch interaktive Medien zum Nachspüren unzuverlässigen Erzählens einladen und zur Ausprägung eines kritischen Rezeptionsmodus beitragen. Hier versammeln sich Beiträge von Marco Magirius und Hans Lösener, die KI-gestützte Schüler*innengespräche mit Figuren aus Kafkas Erzählung Ein altes Blatt (1920) nutzen, um in eine kritisch reflektierende Rezeptionshaltung zu gelangen. Welche Chancen eine interaktive Spielumgebung birgt, um mittels narrativer Multimodalität Erzähler*innenkonstrukte offenzulegen, zeigt Wolfgang Bay am Computerspiel A Jugglers Tale (2021). Seine Daten deuten darauf hin, dass jugendliche Spieler*innen angelegte Spielnarrationen hinterfragen, eigene Wege der Narration beschreiten und Erzählkonstrukte erkennen, auch ohne eine distanzierte Haltung zum Spieltext selbst einzunehmen. Die medienspezifische Interaktivität zur kritischen Diskussion einer unzuverlässigen Erzählinstanz nimmt Raphael Krause im Computerspiel Little Misfortune (2019) in den Blick und entwickelt didaktische Anschlussmöglichkeiten für einen kompetenzorientierten Literaturunterricht der Sekundarstufe. Sebastian Bernhardt systematisiert leibliche und synästhetische Irritationspotenziale im Ausstellungsraum und arbeitet heraus, dass gerade auch außerhalb textgebundener Medien, Empfindungen von Unzuverlässigkeit im symmedialen Raum früh als Angebote zur ästhetischen Wahrnehmungsschärfung erfahrbar werden können. Auf die Verstrickung von außerdiegetischer Wirklichkeit und literarischer Fiktion zwischen Erzählerfigur und Autor blickt abschließend Johanna Tönsing mit dem autobiografischen Roman von Jack Unterweger (Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus [1983]). Sie zeigt, dass das Wissen um die außerliterarische Biografie des Autors Konsequenzen für die Bewertung der Zuverlässigkeit der Erzählerfigur haben kann. 

Kritik

Herauszustellen ist die systematische und umfassend transmediale Betrachtung des Phänomens des unzuverlässigen Erzählens: Durch die Einbeziehung verschiedener Medienformate und Genres deckt der Band ein breites Spektrum an multimodalem unzuverlässigem Erzählen ab. Damit bewegen sich die hier versammelten 18 Beiträge auf neuem Terrain: Einerseits auf Gegenstandsebene im Forschungsdiskurs der Kinder- und Jugendliteratur und -medien selbst, indem unzuverlässiges Erzählen nicht auf printmediale Erzählformate verengt wird, und andererseits auf Rezeptionsebene in didaktisch orientierten Betrachtungen, die das narrative Phänomen nicht nur als Spezialfall für fortgeschrittene Rezipient*innen fassen, sondern davon ausgehen, dass sich auch im frühen Literaturunterricht potenzielle Irritationsmomente zur Anbahnung eines kritisch hinterfragenden Rezeptionsmodus eignen. Theoretische und empirische Fundierungen zeigen auf, dass das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens bereits in der Primarstufe Möglichkeiten für einen kritisch reflektierenden Umgang mit Literatur bietet. Die Vielfalt der gewählten klassischen, populärkulturellen und zeitgenössischen Gegenstände und Formate zeigen, dass eine Reduzierung des Phänomens auf klassische Printmedien nicht mehr ausreicht. Unzuverlässiges Erzählen eröffnet medienübergreifend Möglichkeiten der Bewusstwerdung des Konstruktcharakters von Literatur und Medien und den damit einhergehenden verschiedenen Deutungsoptionen, die Offenheit des Sinnbildungsprozesses sowie die bewusste Wahrnehmung von Fiktionalität zu fördern. Die detaillierte Didaktisierung ausgewählter Medien der einzelnen Beiträge geben gegenstandsorientierte Impulse, um die Vermittlung und Reflexion von Unzuverlässigkeit im Sinne einer kritisch reflektierenden Rezeptionshaltung im Literaturunterricht der Primar- und Sekundarstufe zu fördern. Nicht alle Beiträge stimmen dabei Bernhardts Plädoyer für die konzise Trennung von Gegenstand und Rezeption zu (etwa Demirdögen/Arnold oder Hernik), allerdings wird hier durch Bezugnahmen sehr wohl ein Diskurs innerhalb des Bandes eröffnet, der auf kohärente Weise vielfältigen, wissenschaftlich hochwertigen Positionen Raum bietet.

Die eventuell auf Leser*innenseite erhoffte Neukonzeptualisierung oder gar Typologisierung im Sinne einer medienübergreifenden Universalisierung des Phänomens wird insofern obsolet, als die Beiträge größtenteils mit der Trennung von gegenstandsseitigen Unsicherheitssignalen und tatsächlich vermuteten Rezeptionshaltungen operieren und medienspezifisch Unzuverlässigkeitsmerkmale am Gegenstand selbst ausloten. Empirisch evident zeigen einzelne Beiträge, dass das Erkennen, Lesen und Deuten von Unzuverlässigkeit stark von individuellen, teils habitualisierten Rezeptionsmodi abhängt, die in spezifischen, didaktischen Arrangements durchaus aufgestört werden können.

Fazit

Der umfangreiche, bibliografisch sorgfältig aufbereitete Sammelband ist ein Fundus an Chancen literarästhetischer Unzuverlässigkeit gerade auch für den frühen didaktischen Kontext, der printmediale Erzählformate um eine innovative multimediale Perspektive erweitert. Der Sammelband ist daher bereichernd für Literatur- und Medienwissenschaftler*innen und Didaktiker*innen, die sich vertieft mit dem Phänomen des unzuverlässigen Erzählens auseinandersetzen. Neben der theoretisch fundierten Grundlegung sind insbesondere die praktischen Konkretisierungen hervorzuheben, die für Lehr- und Fachkräfte wertvolle Impulse liefern.

Literaturverzeichnis

Grice, H. Paul: Logik und Konversation. In: Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Hrsg. von Georg Meggle. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979. S. 243–265.

Titel: Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Medien. Didaktische Perspektiven
Herausgeber:
  • Name: Sebastian Bernhardt
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2024
Verlag: Frank & Timme
ISBN-13: 978-3-7329-1015-1
Seitenzahl: 524
Preis: 68€
Vor einem türkisen Hintergrund werden in weißer Schrift die Coverdaten dargelegt. Reihe Literatur – Medien – Didaktik. Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Medien. Didaktische Perspektiven. Sebastian Bernhardt (Hg.) Frank & Timme Verlag.