Inhalt
Der vorliegende Sammelband umfasst u.a. Beiträge, die im Rahmen einer von der Gruppe "Begabung in Literatur und Medien" veranstalteten "Autumn School" an der Universität Münster im Oktober 2020 gehalten worden sind. Entsprechend dem Bemühen der Arbeitsgruppe um ein gemeinsames Forschungsfeld setzen sich Christian Fischer und Christiane Fischer-Ontrup in ihrem für das Themenfeld grundlegenden Beitrag differenziert mit dem Begabungsbegriff auseinander und legen ein Modell vor, das Begabung im Sinne einer "stetigen Entwicklung" als ein "dynamisches und entwicklungsorientiertes Konstrukt" (S. 8) versteht. In dem Band werden Ergebnisse und Modellansätze der pädagogisch-psychologischen Forschung zur Hochbegabung präsentiert, Beispiele von begabten Figuren aus der Kinder- und Jugendliteratur vorgestellt und didaktische Konzepte für eine begabungsförderliche Unterrichtsgestaltung aufgezeigt.
Kritik
Zunächst sollen die Beiträge in den Blick genommen werden, die eine besondere Begabung ausdrücklich mit einem Beispiel aus der Literatur in Verbindung bringen. Anne Vohrmann zieht die literarische Figur des zwölfjährigen Artemis Fowl des irischen Schriftstellers Eoin Colfer (2008) heran, um den Beziehungen zwischen den Konstrukten Intelligenz und Kreativität nachzugehen.
In der nach dem Protagonisten benannten achtteiligen fiktionalen Romanreihe (2001-2012), die bei Kindern und Jugendlichen auf große Resonanz gestoßen ist, wird Artemis als eine Art Wunderkind dargestellt. Er setzt seine hohe Intelligenz ein und verfolgt sein Anliegen, das Familienvermögen zurückzugewinnen, mit List und Tücke. Zumal er einer alten, irischen Verbrecherdynastie entstammt, können seine Aktivitäten als kriminell eingestuft werden. Die Begabungsforschung konnte aufzeigen, dass Intelligenz eng mit dem Persönlichkeitsmerkmal der Kreativität verbunden ist. Dies trifft – so Vohrmann – zweifellos auch auf die Figur des Artemis Fowl zu, dessen Vorgehen durch Originalität und Effektivität gekennzeichnet ist. Da er sich weitgehend unabhängig von elterlichem Einfluss entwickeln kann, verfügt er über ein hohes Maß an Freiheit, was die Autorin als einen weiteren Bedingungsfaktor für Kreativität ins Spiel bringt.
Auch die von Beate Laudenberg herangezogene literarische Figur der Pippi Langstrumpf (1949/1970) von Astrid Lindgren wächst ohne Eltern auf und zeichnet sich durch die besondere Triebkraft ihrer so bezeichneten "Kreativ-Kompetenz" (S. 59) aus. Diese ist ausgestaltet durch Neugier und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, durch Einfallsreichtum, Mut, Humor und Motivationsfähigkeit. Pippi verfügt zudem über ein großes Erzähltalent – begleitet von überbordender Fantasie, die sie zu immer neuen Lügengeschichten inspiriert. Mit der von Lindgren hier gebrauchten impliziten Begabungsdarstellung des "showing" wird den Leser*innen ein hohes Maß an "Verstehens- und Interpretationsleistung" (S. 56) abverlangt. Im Unterschied dazu lässt sich eine explizite Form der Charakterisierung mit eingehender Schilderung der Lebensumstände der Hauptfigur, wie sie z.B. Hermann Hesse verwendet, mit dem Begriff des "telling" belegen.
Wolfram Frietsch und Christina Gut greifen die beiden Hauptfiguren aus Hesses Roman Unterm Rad (1906) auf, in dessen Zentrum das tragisch endende Schicksal des begabten Jungen Hans Giebenrath steht. Er kann zunächst seinen Bildungsweg über ein Stipendium, das er mit sehr viel Unterstützung erlangt, an der Klosterschule Maulbronn beginnen. Letztlich scheitert er jedoch, als der schulische Drill und die an ihn gerichteten Erwartungen zu hoch werden. Dagegen findet sein Freund Hermann Heilner eine Möglichkeit des Weitermachens – auch wenn er aufgrund seines häufig unangepassten Verhaltens die Schule verlassen muss. Wolfram Frietsch rückt diese beiden Figuren unter dem Fokus des mit Hochbegabung verknüpften Merkmals der Resilienz in den Mittelpunkt; eine Fähigkeit, über welche Heilner offensichtlich verfügt. Es ermöglicht das Vertrauen in die eigene Selbstregulierungsfähigkeit und trägt dazu bei, seinen Lebensweg erfolgreich gehen zu können. Der Roman Hesses vermag hier als eine Art Fallbeispiel zu fungieren, das Erkenntnisse der Forschung "anschaulich und emotional vermitteln kann", und darüber hinaus einen Zugang schafft, der Frage von "Krisenbewältigung" anhand einer "Vermittlung von Lektüreerfahrung" nachzugehen (S. 45).
In dem Beitrag von Christina Gut wird Hesses Werk Unterm Rad unter der Perspektive des Underachievement analysiert. Das so bezeichnete Phänomen ist aus der pädagogisch-psychologischen Forschung bekannt und bezeichnet den – häufig unerwartet eintretenden – Leistungseinbruch trotz einer hohen Begabung. Die Autorin macht den Vorschlag, das Werk unter diesem Gesichtspunkt mit Schüler*innen der Sekundarstufe II zu behandeln. Unter didaktischem Aspekt bieten sich hier vielfältige Erschließungsmöglichkeiten an, die u.a. auf autobiografische Bezüge zum schulischen Werdegang Hesses verweisen und auf literarischer Ebene den Blick auf unterschiedliche Erzählperspektiven (Fokalisierung) lenken. Dabei ist es durchaus positiv zu sehen, dass die Autorin ebenso eine kritische Auseinandersetzung mit der Hauptfigur wie mit den Modellen der Pädagogischen Psychologie anregt.
Kerstin Höner zieht eine jugendliche, auf dem Feld der Chemie begabte Protagonistin aus der Literatur heran, um den Chemieunterricht für die Schüler*innen motivierender zu gestalten und Interesse zu wecken. Die elfjährige Detektivin Flavia de Luce (2009-2019) von Alan Bradley beschäftigt sich mit der Spurensuche im kriminalistischen Feld unter dem Einsatz chemischer Hilfsmittel. Die aus der Ich-Perspektive erzählten Geschichten ermöglichen die Identifikation mit dieser Figur und nehmen die Leser*innen mit auf eine Entdeckungsreise. Unter fachdidaktischem Aspekt ist eine unterrichtliche Umsetzung bereits erprobt und evaluiert worden. Fachinhalte konnten auf diese Weise überzeugend vermittelt und das Interesse an Chemie – vor allem von Mädchen – gesteigert werden.
Im Hinblick auf besonders begabte Kinder und Jugendliche im Fach Mathematik zieht Lisa Sellinger Beispiele aus der der Literatur heran und beleuchtet näher das Wechselspiel von mathematischer und sprachlicher Begabung. Sie wählt drei Bücher aus, die unterschiedliche Altersstufen ansprechen und deren Protagonist*innen als Identifikationsfiguren nicht nur auf dem Feld der Mathematik dienen können, sondern auch Anregungspotenziale z.B. für das Verfassen eigener Texte bereitstellen (vgl. S. 183f.). In dem Kinderroman Ausgerechnet Mops (2020) von Constanze Klaue strebt der zehnjährige Ich-Erzähler Emil Balduin Mops die Teilnahme an der Mathematik-Olympiade an. Dieser Plan wird zunichte gemacht, als der Großvater stirbt und die Familie umziehen muss. In seiner Außenseiterposition an der neuen Schule vermittelt die Logik der Mathematik Emil ein Gefühl der Sicherheit, und es zeigt sich, dass er zudem über eine sprachliche Begabung verfügt. Ebenfalls eine große Begeisterung für die Mathematik hat der zwölfjährige Malte in Schön wie die 8 (2021) von Nikola Huppertz, der die 7. Klasse eines Gymnasiums sowie den Matheclub besucht und sich auf die Landesrunde der Mathematik-Olympiade vorbereitet. Durch seine Halbschwester Josefine, die Gedichte mag und sogar schreibt, wird er angeregt, sich auch auf sprachlicher Ebene weiterzuentwickeln. Mit Blick auf die unterrichtliche Umsetzung ließe sich – hieran anknüpfend – der Zusammenhang von lyrischen Texten und Mathematik thematisieren, was allerdings die Bereitschaft der Lehrperson voraussetzt, fachliche Grenzen zu überschreiten. In Daniel Kehlmanns Roman Beerholms Vorstellung (1997) findet der knapp dreißigjährige Ich-Erzähler über die im Jugendalter betriebene Magie einen Weg zur Logik und Ordnung der Mathematik, die sich mit seiner magischen Traumwelt vermischt, was z.B. im Unterricht an ausgewählten Textstellen genauer untersucht werden kann.
David Rott ist in seinem Beitrag "geschlechterspezifischen Stereotypen auf der Spur" (S. 197-212) und zeigt auf, dass Begabung als eine Dimension von Heterogenität in Kinder- und Jugendbüchern unterschiedlich ausgestaltet wird und auch mit Vorurteilen und Stereotypen verknüpft sein kann. Insbesondere betroffen erscheint hier die Überlagerung der beiden Konstrukte Begabung und Geschlecht. Häufig werden Stereotype bedient, die einer Zuschreibung fachlicher Begabungen zum Geschlecht folgen. Sehr anschaulich wird dies gezeigt anhand der Hauptfigur im Jugendroman von Tom S. Easton Ben Fletchers total geniale Maschen (2015). Ben gerät eher zufällig in die Arbeitsgemeinschaft Stricken an seiner Schule und erweist sich als durchaus talentiert. Als er sich dazu entschließt, an einem Wettbewerb teilzunehmen, muss er die Anfeindungen seiner Mitschüler*innen ertragen und kann nur unter großen Mühen für sein Hobby einstehen, schafft es schließlich aber doch, seinen eigenen Weg zu gehen. In Die beste Bahn meines Lebens (2019) von Anne Becker geht es um das leistungsstarke Mädchen Flo mit ihrem Steckenpferd der Mathematik. Sie ist befreundet mit Jan, der ein sehr guter Schwimmer ist, aber Schwierigkeiten beim Lesen und in der Rechtschreibung hat. Sowohl die besondere Begabung Flos als auch die schulischen Probleme Jans in Verbindung mit seinem sportlichen Talent sorgen für Vorurteile und Ausgrenzungen. Im Hinblick auf eine eingehendere Analyse dieser Literaturbeispiele sollte auch auf die wichtige Rolle der Gegenspieler der Hauptfiguren eingegangen werden.
Insgesamt vier Beiträge des Bandes widmen sich nicht ausdrücklich der Einbeziehung literarischer Figuren, sondern konzentrieren sich auf den Aspekt der Förderung von begabten Schüler*innen. Perspektiven für die sprachliche Bildung in der Kita und die Gestaltung des Übergangs zur Grundschule haben Dagmar Bergs-Winkels und Nina Bergs im Blick. Um den Austausch von Textdeutungen in Vorlesegesprächen geht es bei Caterina Mempel. Ziel eines entsprechenden Forschungsprojekts war es, ein gewinnbringendes Textverständnis in heterogenen Lerngruppen der Primarstufe zu erreichen. Die hier wiedergegebene videografierte Sequenz zum Vorlesegespräch über ein Kinderbuch zeigt überzeugend, wie "das Gegenüberstellen, Vergleichen und Vernetzen von Deutungen" (S. 125) gelingen kann.
Ebenfalls unter dem Aspekt der Leistungsheterogenität in Schulklassen gerät bei Katarina Farkas die Gruppe der gemeinhin wenig bedachten Viellesenden in den Blick. Gerade bei einheitlicher Klassenlektüre scheint es ein gut umsetzbarer Weg zu sein, zusätzliche Angebote mit erweiterten Aufgabenstellungen anzubieten – wie dies z.B. über die hier untersuchte Methode des Literaturquartetts realisiert werden kann. Perspektiven und Vorschläge zum literarischen Verstehen mit Bezug auf den kompetenzorientierten Schweizer Lehrplan 21 unterbreiten Katarina Farkas und Nadine Nell-Tuor. Dies geschieht "in der Auseinandersetzung mit medial schriftlichen oder medial mündlichen Texten" und basiert entsprechend auf Lese- oder Zuhörprozessen (S. 77). Wie in Bezug auf die Inhalte einer Lektüre wird hier darauf aufmerksam gemacht, dass auch im didaktisch-methodisch geleiteten Zugang der Lernenden unterschiedlich Präferenzen bestehen können, die diese selbst kennen sollten. Im Sinne eines "Enrichment" werden für besonders sprachlich Begabte Anregungen für die Praxis aufgezeigt (S. 85f.).
Fazit
Dem weitgespannten und fachlich übergreifenden Forschungsfeld, wie es in dem vorliegenden Band entfaltet wird, ist es geschuldet, dass neben der Auseinandersetzung mit begabten Figuren aus der Kinder- und Jugendliteratur Modelle und Ergebnisse der pädagogisch-psychologischen Begabungsforschung und breit gefächerte didaktisch-methodische Anregungen für verschiedene Klassenstufen und Fächer vertreten sind.
Gerade der Blick auf eine begabte Figur aus der Literatur erschließt ein Arbeitsfeld für die Begabungsforschung, das bisher nur wenig Beachtung erfahren hat und eine Intensivierung der Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg auch für die Zukunft sinnvoll erscheinen lässt. Mit Blick auf die in den einzelnen Beiträgen stets ausdrücklich bedachte Praxisorientierung wäre zu wünschen, dass die aufgezeigten Forschungsergebnisse und Reflexionsanstöße auch in den fachdidaktischen Diskursen – etwa ausgehend von den hier berücksichtigten Fächern Deutsch, Mathematik, Chemie – Eingang finden werden.
Eine Art Sonderstellung nehmen die Beiträge ein, die einen didaktisch-methodischen Zugang im Deutschunterricht (z.B. Leseförderung, Vorlesegespräche, Literaturquartett) von vornherein und ohne ausdrücklichen Bezug auf eine literarische Figur im Blick haben, was in der Anlage des Bandes deutlicher hätte zum Ausdruck kommen sollen.
- Name: Katarina Farkas
- Name: Beate Laudenberg
- Name: Johannes Mayer
- Name: David Rott