Inhalt

Im Fokus des fünften Sammelbandes der Reihe Literatur – Medien – Didaktik stehen vorrangig epische Texte der Gegenwartsautorin Antonia Michaelis, die altersgruppenorientiert in drei Rubriken – also ausgehend von Texten für Erstlesende bis hin zu Kinder- und Jugendromanen – analysiert werden. Auch wenn die Theaterstücke der Autorin ausgespart bleiben, gelingt es im Rahmen der elf Beiträge, nicht nur zentrale Themen (wie etwa Gewalt, Familie oder Klimawandel), sondern auch ästhetische Verfahren für Michaelis‘ narratives Werk (wie z. B. romantisch-fantastisches Erzählen etc.) herauszuarbeiten. Wie die Herausgeber*innen betonen, lassen sich drei spezifische Schwerpunkte für das Schaffen der Autorin erkennen: „[I]nterkulturelles Engagement, Umweltschutz […] und Sousrealismus“ (S. 10) – ein Begriff, mit dem Michaelis selbst ihr Anliegen beschreibt, im Alltag cachierte Phänomene mittels Literatur sichtbar zu machen (vgl. ebd.). Darüber hinaus sei es ein zentrales Anliegen des Bandes, „vielschichtige Perspektiven für die Leseförderung in unterschiedlichen Altersklassen zu entwickeln“ (S. 10). Entsprechend werden in allen Beiträgen stets literaturwissenschaftliche und didaktisch-methodische Perspektiven gewinnbringend miteinander verknüpft – eine theoretisch fundierte und zugleich praxisnahe Ausrichtung des Bandes, der Forschende wie Lehrer*innen gleichermaßen adressiert.

Kritik

In der ersten Rubrik „Werke für die Kleinsten: literarische Erstkontakte“ eröffnen Sandra Siewert und Ulrike Preußer – ausgehend von der Erstlesebuchserie Die Tierhelfer (ab 2020) – neue Perspektiven auf das zuweilen als „stereotyp, oberflächlich“ (S. 17) kritisierte Genre Erstlesebuch, indem sie Potenziale für eine literarästhetische Leseförderung aufzeigen: Neben der visuellen Gestaltung (z. B. der Figuren auf dem Cover) bieten insbesondere Phraseme im Peritext (wie etwa im Inhaltsverzeichnis oder in Überschriften) zahlreiche Anlässe, um mit jungen Lesenden vor, während oder und nach der Lektüre zu sprechen und Prozesse literarischen Lernens zu fördern. 

Wie Eva-Maria Dichtl und Lena Hebsacker überzeugend und praxisnah veranschaulichen, werden im Bilderbuch Prinzessin Alva und der hustende Feuerdrache (2020) gängige Märchenmerkmale, -motive und Rollenbilder dekonstruiert, die im Unterricht zur Auseinandersetzung mit Genrekonventionen einladen können. Darüber hinaus zeichnet sich Michaelis‘ Text mit unterschiedlichen Erzählebenen (und metafiktionalen Elementen) durch das Spiel mit diegetischer Wirklichkeit und Fantastik aus – eine Möglichkeit, um die Fiktionalitätskompetenz sowie die Ambiguitätstoleranz von Schüler*innen zu fördern. Christel Meier zeigt am Beispiel des Vorlesebandes Schokolade am Meer (2009), dass es sich bei Michaelis‘ ‚sousrealistischer‘ Fantastik um eine „ganz eigene Spielart des Zweiweltenmodells“ (S. 70) handelt, die aber durchaus an Konzepte des magischen Realismus anschließt oder an die bekannte Riss-Metapher des Fantastik-Diskurses erinnert. Um auch die „Fabulierfreude“ (S. 79) von Grundschüler*innen zu steigern, plädiert Meier dafür, sowohl „das (offen-dialogische) Vorlesen“ (S. 79) als auch kreative Schreibmethoden einzusetzen und schlägt konkrete Umsetzungsmöglichkeiten vor.

Im Rahmen der zweiten Rubrik „Umwelt, Romantik, Fantastik und Historizität in den Kinder- und Jugendromanen“ widmen sich zunächst Sebastian Bernhardt und Nadine Rack-Hellekes den didaktischen Potenzialen des (meta-)seriellen Erzählens in Michaelis‘ bekannter Reihe Die Amazonas-Detektive (ab 2021). Neben dem „Spiel mit Variation und Wiederholung“ (S. 12) werden Herausforderungen und Möglichkeiten für einen kultursensiblen Literaturunterricht formuliert, in dem stereotypische Darstellungen indigener Stammesmitglieder oder gängige Dichotomien wie Kultur/Natur und Stadt/Regenwald herausgearbeitet und mithilfe konkreter Aufgabenbeispiele dekonstruiert werden können. 

Auch Julia Kruse und Sabine Röttig beschäftigen sich am Beispiel des Kinderromans Wenn der Windmann kommt (2009) mit der problematischen Natur-Kultur-Grenze, die im Text sowohl durch kontrastive Raumdarstellungen aufgerufen als auch durch Perspektivwechsel und Hybridisierungen auf der Formebene aufgelöst wird: Der Ich-Erzähler und Stadtjunge Patrick lernt die „magisch-belebte Natur“ (S. 112) als Lebenswelt der weiblichen Figuren Pareidolie und Rebecca kennen, die im Rahmen einzelner Passagen in Gedicht- sowie Tagebuchform selbst zu Wort kommen. Zwar bleibt die interessante geschlechtliche Codierung der Räume unberücksichtigt, jedoch entwickeln Kruse und Röttig eine Vielzahl von konkreten Aufgabenbeispielen, um Schüler*innen insbesondere für „die Problematisierung der Kultur-Natur-Dichotomie, Perspektivwechsel [des Protagonisten; S. T.] und Raumwahrnehmungen“ (S. 124) im Roman zu sensibilisieren.

Im Anschluss untersucht Kirsten Kumschlies anhand ausgewählter Texte, wie Umwelt- und Klimaschutz in ökologischen Kinderromanen dargestellt werden: Während der Fluchtroman Manchmal muss man Pferde stehlen (2022) ökologische Themen eher en passant behandelt, aber insbesondere auf das enge Tier-Kind-Verhältnis eingeht, erscheint im Roman Wind und der geheime Sommer (2019) vor allem der idyllische Garten als idealer Spielort und Sinnbild für die „Verschmelzung von Kind und Naturraum“ (S. 148). Darüber hinaus wird in Michaelis‘ Serie Minik (2022-23) mit dem gleichnamigen Seehund ein tierischer und handlungsmächtiger Ich-Erzähler entworfen, der nicht nur „als Sprachrohr für die ökologische und tierethische Wertevermittlung“, sondern auch als empathischer „Sympathieträger und Abenteuerheld“ (S. 142) fungiert. Dadurch ergeben sich, wie Kumschlies mit konkreten Unterrichtsvorschlägen verdeutlicht, zahlreiche Potenziale für einen kulturökologisch ausgerichteten Literaturunterricht in Grundschule und früher Sekundarstufe I. 

Natalie Beck und Sebastian Bernhardt analysieren den Abenteuerroman Das Blaubeerhaus (2015) im Hinblick auf verschiedene Zeitebenen sowie die fiktionalisierte Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, bevor sie didaktische Perspektiven für das literarische und fächerübergreifende Lernen (im Geschichtsunterricht) für die 4./5. Klassenstufe ableiten. Obwohl der Beitrag von den vorherigen Umwelttexten in dieser Sektion auf den ersten Blick thematisch abgekoppelt wirkt, erscheint seine Zuordnung dennoch sinnvoll: Einerseits lässt sich mit den romantisch-fantastischen Elementen des Primärtextes eine Verbindung zu den zuvor besprochenen Kinderromanen herstellen. Andererseits erlaubt der Beitrag mit seinem Fokus auf historische Gewaltverbrechen einen fließenden Übergang zur dritten Sektion „Intertextualität, Gewaltdarstellungen, Raumsemantik und Interkulturalität“, die sich ausschließlich auf Michaelis‘ Jugendromane bezieht. 

Zu Beginn der dritten Rubrik spürt Mirjam Burkard im Jugendroman Die Worte der weißen Königin (2011) mit großer Sorgfalt intertextuelle Verweisspiele auf, die zwar überwiegend auf Astrid Lindgrens Märchen Klingt meine Linde (1956; Dt. 1960), aber u. a. auch auf Klassiker wie Rudyard Kiplings Das Dschungelbuch (1894) oder Antoine de Saint-Exupérys Der Kleine Prinz (1943) zurückgehen. Wie Burkard betont, eignet sich der Jugendroman aufgrund der expliziten Verweise zwar besonders für eine „erste intertextuelle Lektüre im Deutschunterricht“ (S. 190), schafft jedoch vor allem mit impliziten Referenzen auch Leseanreize für erwachsene Rezipient*innen und lässt sich daher der beliebten Crossover-Literatur zuordnen (vgl. S. 198f.).

Im Anschluss widmet sich Henriette Hoppe dem beliebten Handlungsort Madagaskar, den Michaelis nach eigener Aussage bewusst für ihre Romane wählte, um „Aufmerksamkeit für den Inselstaat mit der bedrohten Idylle zu wecken“ (S. 201). Werden in Der Koffer der tausend Zauber (2020) vor allem noch oppositionelle Handlungsräume entworfen (z. B. Natur/Kultur, zerstörerische Stadt/schützender Wald), rückt der Roman Weil wir träumten (2022) Grenzüberschreitungen und -verwischungen in den Fokus: So entdeckt die Protagonistin Emma nicht nur die Schattenseiten der verarmten madagassischen Insel Sainte Marie, sondern in der Stadt auch Schönheit „inmitten der Slums“ (S. 211) – eine Gestaltung, die im Literaturunterricht laut Hoppe mittels raumsemantisch orientierter Analyseverfahren (vgl. Feilke/Spinner) gewinnbringend erschlossen werden könnte. 

Andreas Hudelist arbeitet verschiedene Gewaltformen und -darstellungen im Jugendroman Die Attentäter (2018) heraus, indem er auf das Gewaltdreieck nach Galtung (1998) zurückgreift und es um epistemische Überlegungen ergänzt (vgl. Brunner 2020): So wird gezeigt, dass es im Roman weniger um genaue Gewaltbeschreibungen oder die Entstehung von Gewalt, denn vielmehr um ihre weitreichenden Folgen geht. Da sich die Romanfigur Cliff vom ausgeschlossenen Gewaltopfer zum IS-Attentäter radikalisiert, lassen sich Handlungsspiralen erkennen, die auf die Tabuisierung von Gewalt zurückzuführen sind und – so schlussfolgert Hudelist mit Blick auf die außerliterarische Gegenwart – nur durch Sensibilisierung und Dialog durchbrochen werden können.

Im letzten Beitrag des Sammelbandes widmet sich Kirsten Kumschlies der Roadnovel Tankstellenchips (2018), in der es um die Heldenreise des 18-jährigen Migranten Shayan geht. Wie gezeigt wird, beschreitet Michaelis zur Problematisierung der ‚Flüchtlingskrise‘ in Deutschland „neue Erzählwege“ (S. 237), werden hier doch Satire und Ironie anstatt der sonst eher favorisierten, romantisch-fantastischen Motivik bevorzugt. Aus didaktischer Perspektive erscheinen laut Kumschlies vor allem das Ausreißer-Motiv, die Heldenreise sowie interkulturelle Aspekte von Bedeutung, die sich mithilfe der Raumsemantiken analysieren lassen: Der Ich-Erzähler Shayan führt beispielsweise anhand brüchiger Wahrzeichen ein anti-idyllisches Deutschland vor (vgl. S. 248).

Fazit

Kirsten Kumschlies und Sebastian Bernhardt legen einen ertragreichen Sammelband mit insgesamt elf fundierten Beiträgen vor, die das epische kinder- und jugendliterarische Werk der Gegenwartsautorin Antonia Michaelis sondieren: Es werden nicht nur neue Einzelanalysen vorgelegt, sondern auch werkübergreifende Themen, Motive und ästhetische Strategien herausgearbeitet. Basierend auf diesen Ergebnissen gelingt es den Beiträger*innen, didaktische Potenziale der epischen Texte aufzuzeigen und meist konkrete Aufgabenstellungen für eine methodisch vielseitige Behandlung im gegenwartsliterarischen Unterricht vorzuschlagen. 

Literaturverzeichnis

Brunner, Claudia: Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript, 2020. 

Feilke, Helmuth/Spinner, Kaspar H.: „Raum und Räume.“ In: Praxis Deutsch 207 (2008). S. 6-12. 

Galtung, Johan: Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Aus dem Engl. übersetzt v. Hajo Schmidt. Opladen: Leske + Budrich, 1998.

 



Titel: Antonia Michaelis‘ Werke im literaturdidaktischen Fokus
Herausgeber:
  • Name: Sebastian Bernhardt
  • Name: Kirsten Kumschlies
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Frank & Timme
ISBN-13: 978-3-7329-0915-5
Seitenzahl: 260
Preis: 39,80€
Buchcover zum Sammelband