Inhalt
Der Sammelband entstand im Rahmen des Symposiums „Philosophische Fragen im Spiegel der Kinder und Jugendliteratur: Literatur- und Philosophiedidaktische Perspektiven“, welches im November 2021 auf der Oldenburgischen Kinder- und Jugendmesse stattfand. Er widmet sich der Frage, unter welchen Bedingungen Menschen durch „literarisch aktivierte[] philosophische[] Reflexion ‚verständnisvoller, klüger, stärker und weiser‘ – mithin zu mündigen Subjekten – werden“ (S. 11). Der Forschungsfrage liegt zugrunde, dass literarische Texte ein besonders hohes Potenzial zur Erzeugung philosophischer Reflexions- und Bildungsprozesse haben. Dies liegt unter anderem daran, dass den Schüler*innen die Probleme, welche in philosophischen Texten beleuchtet werden, durch literarische Texte greifbar gemacht und nähergebracht werden können. Im Fokus der 10 Beiträge, die sich sowohl mit zeitgenössischen als auch historischen Kinder- und Jugendmedien wie dem Roman, dem Comic, oder dem Bilderbuch befassen, stehen die Bildungsprozesse im Deutsch- und Philosophieunterricht von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II.
Kritik
Im ersten Beitrag des Sammelbandes, „Wenn wir ändern könnten, was wir nicht ändern können. Philosophische Fragen in der fantastischen Jugendliteratur”, argumentiert Ulf Abraham, dass in der nichtrealistischen Jugendliteratur anthropologische Grundüberzeugungen erschüttert werden können, woraus sich ein Potenzial für Reflexionsanlässe im Deutschunterricht ergibt. Diese Reflexionsanlässe geschehen durch die unendliche Möglichkeit an alternativen Lebensweisen, die mit fantastischen Texten einhergehen, wie beispielsweise die Nutzung übermenschlicher oder magischer Fähigkeiten, die überspringbare oder bereisbare Zeit, oder auch „das Narrativ künstlicher Lebewesen, von Menschen erschaffen und sich gegen sie wendend“ (S. 16). Abraham formuliert im Anschluss an eine kurze Analyse vier exemplarischer nichtrealistischer Texte – Ursula LeGuins Die linke Hand der Dunkelheit (1974), Jennifer Benkaus Dark Canopy (2012), David Leviathans Letztendlich sind wir dem Universum egal (2014) und Neal Schustermanns Scythe: Die Hüter des Todes (2017) – aus fachdidaktischer Sicht drei nachvollziehbare Zielperspektiven für den Umgang mit philosophischen Texten im Deutschunterricht, für welchen er stark plädiert. Voraussetzung sei allerdings – und hier stimme ich zu –, dass „philosophische Fragen, […] die durch kinder- und jugendliterarische Texte nahegelegt werden, nicht nur aus diesen herausgenommen und dann philosophiedidaktisch thematisiert werden, sondern literaturdidaktisch eingebunden werden in ein Konzept literarischen Lernens“ (S. 24).
In „’Den Hund hatte er. Obwohl er ihn nicht hatte.’ Erkenntnistheoretische Fragen verhandeln mit literaturästhetisch komplexen Bilderbüchern” gehen Gerrit Althüser und Ina Henke der Frage nach, „wie literarische Texte zur Thematisierung philosophisch relevanter Probleme im Unterricht eingesetzt werden können, ohne dass sie dabei als ästhetische Gegenstände mit einem spezifischen Form-Inhalts-Gefüge aus dem Blick geraten“ (S. 29). Nach einer kurzen Einordnung erkenntnistheoretischer Fragen in der Literaturgeschichte präsentieren die Autor*innen eine fokussierte Analyse dieser anhand zweier Bilderbücher: Nikolaus Heidelbachs Wenn ich groß bin, werde ich Seehund (2021) und Edward van den Vendel und Anton van Hertbruggens Der Hund, den Nino nicht hatte (2013). Sie schließen mit eher vagen Umsetzungsideen ebenjener Bilderbücher im Literaturunterricht, die besonders Irritationsmomente fördern sowie zur Reflektion einer der zentralen erkenntnistheoretischen Fragen – woher weiß ich, ob die Wirklichkeit wahr ist – anregen könnten.
In dem Beitrag „Turning the Gender Wheel – Bilderbücher zum Thema ‘Transgender’ als Elemente eines philosophisch orientierten Literaturunterrichts in der Grundschule” stellt Claudia Priebe drei Kriterien für eine Buchauswahl auf, welche Lernangebote für literarische wie auch ethische Kompetenzen ermöglichen sollen: Die ästhetisch anspruchsvolle und vielschichte Textgestaltung, die entwicklungsangemessene, sachlich korrekte Darstellung, welche zentrale Aspekte des Themas umfasst, sowie die Befähigung zur eigenständigen Auseinandersetzung mit der Thematik. Bei zwei Bilderbüchern – Raffi und sein pinkes Tutu (2019) und Prinzessin Hannibal (2017) – wendet die Literaturdidaktikerin die Kriterien beispielhaft an, bevor sie sich der Frage widmet, wie ein „philosophisch akzentuiertes literarisches Gespräch“ (S. 61), welches Schüler*innen zur Reflexion anregt, in der Praxis aussehen kann. Anregend und nachvollziehbar ist hier besonders die thematische Einordnung in die Grundschule.
Julia v. Dall‘Armi diskutiert in „’Denken ohne Geländer’? Ken Krimsteins Graphic Novel ‘Die drei Leben der Hannah Arendt’ (2019) aus literaturdidaktischer Perspektive” die fachdidaktische Tauglichkeit der Graphic Novel für den Geschichts-, Ethik- und Deutschunterricht. Sie stellt heraus, dass Teile von Krimsteins Graphic Novel besonders in der Sekundarstufe II methodisch als Nachbereitung oder Diskussionsanlass sinnhaft sein können, plädiert aber dafür, das durch hohe Fachsprachlichkeit und Quervernetzungen vorhandene philosophische und geschichtliche Wissen, welches für eine positiven Rezeption des Werkes notwendig wäre, nicht zu vernachlässigen. Im Anschluss an ihre Analyse kommt v. Dall’Armi nachvollziehbar (und trotzdem überraschenderweise) zum Schluss, dass „eine Kombination aus hohem Bild- und geringem Textanteil nicht zwangsläufig zu einem besseren Verständnis oder gar einer erhöhten Rezeptionsmotivation“ (S. 81) führt. Sie schränkt somit die zu Beginn des Kapitels aufgestellte Annahme ein, dass „Schüler*innen mit geringer Lesekompetenz beim Lesen von Graphik Novels nachweislich eine größere Rezeptionsmotivation haben und deren Inhalte eher verstehen dürfen“ (S. 70).
Auch Jörn Brüggemann prüft in seinem Beitrag „’Schwarze’ im Blick von ‘Weißen’ im Blick von ‘Schwarzen’ im Blick von … – Hans J. Massaquois Autobiographie ‘Neger, Neger, Schornsteinfeger!’ in einem identitätsorientierten und kulturhistorischen Literaturunterricht” Literatur hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für Letzteren, fokussiert hier allerdings die Frage der Identität und Identitätsbildung bei Jugendlichen. Massaquois Autobiographie biete zwar Potenzial für eine „identitätsorientierte Auseinandersetzung mit offensichtlichen, unterschwelligen rassistischen Stereotypen“ (S. 86), beinhalte aber zeitgleich die Herausforderung, dass Jugendliche ohne Diskriminierungserfahrung sensibilisiert und Jugendlichen mit Diskriminierungserfahrungen Angebote zur Verarbeitung gemacht werden müssen. Dazu seien Angebote zur Perspektivübernahme, aber auch der Aufbau von begrifflichem, philosophischem und historischem Wissen hilfreich. Zwar führt er auf, wie genau dies im Literaturunterricht geschehen könne, zeigt allerdings hinsichtlich des literaturpädagogischen Dilemmas zwischen Reproduktion von Stereotypen und Raum-Geben für Betroffenenberichte keine Richtung auf.
Nathalie Kónya-Jobs führt in ihrem Beitrag, „Zitelmanns ‘Hypathia’ im Deutschunterricht und in Praktischer Philosophie. Literarisches Erzählen über eine spätantike Philosophin im Spiegel fiktionalitätskritischer Fragestellungen”, Schritt für Schritt auf, mit welchen Kompetenzzielen der historische Jugendroman von 1988 in einer 9./10. Klasse bearbeitet werden könne. Sie fokussiert dabei besonders die Auseinandersetzung mit Fiktionalität unter Anführung klarer Beispiele. So führt sie beispielsweise eine Unterrichtsstunde aus, bei der die Schüler*innen bereits zu Beginn mit dem Zitat „Gar vieles lügen die Dichter“ (S.138) konfrontiert werden. Besonders hervorzuheben und originell sind ihre Ideen für die Gegenüberstellung der historischen Wissenschaftlerin Hypatia und der auf ihr basierenden Romanfigur.
Romy Brüggemann thematisiert in „Wer bin ich? Herausforderungen für die personale Identität in David Leviathans Jugendroman ‘Letztendlich sind wir dem Universum egal’ als Anknüpfungspunkt für den Einsatz literarischer Texte im Philosophieunterricht der Sekundarstufe I”, wie die philosophische Leib-Seele-Problematik mit Schüler*innen behandelt werden kann (vgl. S. 146). Der Beitrag sticht hervor, da die vorgestellte Unterrichtseinheit bereits mit einer neunten Klasse in dem Fach Praktische Philosophie durchgeführt wurde. Brüggemann untermauert ihre theoretischen Überlegungen mit praktischen Schüler*innen-Ergebnissen, was zu einer Durchführung ihrer Reihe einlädt.
In „'[N]ach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch’. Reflexion der Notwendigkeit und Unmöglichkeit einer Darstellung der Shoah anhand von Art Spiegelmanns ‘Maus’” von Kerstin Gregor-Gehrmann und Lena Westerhorstmann wird die politisch hoch relevante Frage aufgegriffen, „ob und wie die immer nur medial vermittelt zugänglichen Erfahrungen des Genozids durch das NS-Regime angemessen bewahrt werden können“ (S. 169). Sie zeigen in ihrem Beitrag das didaktische Potenzial von Spiegelmanns Comic in einer ausführlichen Analyse auf und plädieren „für einen Einsatz der Lektüre in möglichst vielen verschiedenen Unterrichtsfächern“ (S. 193).
Linda Merkel beleuchtet in „‘Was bleibt vom Menschen, wenn er stirbt?’ Religionsphilosophische Fragestellungen in John Greens ‘Eine wie Alaska’“ gründlich, wie philosophische Reflexionsfähigkeit durch die Lektüre des Jugendromans gefördert werden sowie „kritische Haltungen zur Fragestellung erprobt und ein bewusstes Verhältnis zur religiösen Orientierung eingeübt werden“ (S. 216) kann.
Im letzten Beitrag, „’Hm, Hm! – Sag einmal, was meint ihr wohl?’ Das Sokratische Gespräch in der Kinder- und Jugendliteratur als Aufklärung”, widmet sich Thomas Boyken der übergreifenden Fragestellung, mit welchen Strukturen sich ein Kinder- und Jugendbuch „philosophische[n] Denk- und Verhaltensweisen annähert“ (S. 219). Er betrachtet dabei eine Vielzahl historischer und zeitgenössischer Werke, fokussiert aber besonders Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere (1779) und Johann Gottlieb Schummels Spitzbart (1779), welche beide auf unterschiedliche Weise das Sokratische Gespräch als Methode beinhalten. Ein besonders für Philosophielehrkräfte erkenntnisreicher Beitrag, der eher theoretische Hinweise als tatsächliche Unterrichtideen liefert.
Fazit
Der Sammelband zeigt eindrucksvoll, wie kinder- und jugendliterarische Texte philosophische Reflexions- und Bildungsprozesse fördern können. Die Beiträge decken ein breites Spektrum an Themen und literarischen Gattungen ab – von fantastischer Literatur über Bilderbücher bis hin zu autobiografischen Werken und Graphic Novels. Damit liefert der Band nicht nur wertvolle theoretische Impulse für sowohl die Literaturwissenschaft als auch die Philosophie, sondern besonders auch praxisnahe Umsetzungsideen für Deutsch- und Philosophielehrkräfte von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II. Auch für Geschichts- oder Politiklehrkräfte sowie Menschen, die in der Jugendarbeit tätig sind, lohnt sich ein Blick in den Sammelband.
- Name: Thomas Boyken
- Name: Jörn Brüggemann
- Name: Kerstin Gregor-Gehrmann
