Inhalt

Vito Paoletićs Dissertation wurde zwischen 2016-2018 erarbeitet, 2019 in Klagenfurt verteidigt und hat nun in der Reihe „Germanistische Texte und Studien“ einen Platz gefunden. Sie schließt an den Stand der gattungstheoretischen Diskussion zum Adoleszenzroman bis 2018 an, aber vor allem führt Paoletić diese Diskussion mit Überlegungen zu einer Poetik des Utopischen zusammen. Dieses Interesse ließe sich gut durch die romantischen Kindheits- und Jugendutopien motivieren, die nach Rousseau und Herder entstanden sind, und auch in der Literatur ihren Niederschlag gefunden haben. Paoletić geht aber nicht in erster Linie von einem diskurshistorischen, sondern von einem eher gegenwartsorientierten Interesse aus: Es sind die „Endzeitstimmungen“ (S. 269) des 21. Jahrhunderts, die sozusagen ex negativo die utopische Fantasie „in der Literatur, in uns und um uns herum“ (S. 151) stimulieren. Dass die utopische Einbildungskraft im Adoleszenzroman des 21. Jahrhunderts auf besondere Weise Spuren hinterlässt, ist somit die These der Untersuchung.

Die Arbeit entfaltet diese These in acht Kapiteln, die allerdings nicht strikt aufeinander aufbauen, sondern „parallele Argumentationsstränge“ (S. 17) darstellen und von einer Einführung und einem Schlusswort gerahmt werden. In den ersten vier Kapiteln werden theoretische und terminologische Grundlagen der Untersuchung entwickelt. Zunächst wird eine Theorie der Adoleszenz dargeboten, wobei Paoletić unter Rückgriff auf einschlägige Fachliteratur aus der Soziologie, Psychologie, Kulturwissenschaft und Geschichtswissenschaft herausarbeitet, dass dieses Lebensalter biologische Prozesse (Pubertät), aber auch moderne Gesellschaften voraussetzt, welche den Heranwachsenden anders als traditionale Gesellschaften ermöglichen und zumuten, in einem großen Umfang an ihren individuellen Identitäten zu arbeiten. Die Jugendphase entfesselt dadurch transformatorische Energien, die sich auch in gesellschaftlichen Veränderungen niederschlagen könnten; mit anderen Worten besteht eine „Wechselwirkung“ (S. 29) zwischen Adoleszenz und gesellschaftlicher Modernisierung.

Im zweiten Kapitel wird der gattungstheoretische Diskurs dargestellt. Paoletić profiliert den Adoleszenzroman gegenüber benachbarten Gattungen wie dem Bildungsroman und greift dafür auf Erträge der Forschung zur KJL und zur Allgemeinliteratur zurück. Weiterhin wird der Ort der Gattung im Literatursystem (KJL, all age oder Erwachsenenliteratur) diskutiert. Der aktuelle Adoleszenzroman wird im Zeichen einer sich zunehmend verlängerten Adoleszenzphase als „Schnittstelle“ (S. 85) zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur eingeordnet.

Daran schließt ein analytisches Zwischenkapitel an, das Schlüsselmomente in der Gattungsgeschichte (1800, 1900, 1970) an kanonischen Exemplaren veranschaulicht: Goethes Die Leiden des jungen Werthers (in der Fassung von 1774), Moritz’ Anton Reiser (1786), Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), Hesses Unterm Rad (1906), Grass’ Katz und Maus (1961), Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1972).

Die Analysen weisen schon auf das nächste Theoriekapitel voraus, weil sie mit einigen Kategorien operieren (z. B. das Tagträumen und weitere Formen wirklichkeitstranszendierenden Imaginierens), die nun erst ausführlich erläutert werden. Unter Rückgriff auf philosophische und literaturwissenschaftliche Utopietheorien wird dargelegt, was die Utopie ausmacht. Paoletić argumentiert – insbesondere mit Ágnes Heller – dafür, dass bereits die menschliche Einbildungskraft selbst, nicht erst die literarische Gattung Utopie, über die historische Wirklichkeit hinausweist, indem sie eine positive, wünschenswerte Alternative imaginiert. Auf diese Weise kann er Utopie, dabei nah an Bloch und Mannheim, „in einem erweiterten Sinn“ (S. 188) als eine ‚Denkform‘ fassen, die entweder eine positive (Utopie) oder negative (Dystopie) Transzendierung der Wirklichkeit im Modus des Imaginären bezeichnet. Die Utopie ‚scheitert nie‘, insofern jeder als negativ empfundene Zustand die Imagination eines besseren motiviert; nicht die Realisierung dieser Vorstellung, sondern die utopische Vorstellungsbildung selbst stellt Paoletić zufolge eine Regelmäßigkeit dar, die insofern auch nicht scheitern kann. An der utopischen Vorstellung eines ‚anderen Zustands‘ bei Robert Musil und den grotesken Darstellungen von Entfremdung im Werk Franz Kafkas wird kurz erläutert, inwiefern utopisches und dystopisches Denken sich in der Konzeption und Gestaltung von Literatur auch dann entdecken lässt, wenn die Utopie nicht als Gattung realisiert wurde. Zudem werden die Schnittmengen der Utopie mit Science Fiction und der Fantastik diskutiert.

In den Kapiteln 5, 6 und 7 landet die Untersuchung dann beim jüngeren Adoleszenzroman. Diese Phase der Gattungsgeschichte wird in den Kontext eines postmodernen Realismus eingeordnet, in der das Verhältnis von literarischer Mimesis und lebensweltlicher Realität selbst thematisch – und systematisch – verunklart werde. An Cornelia Travniceks Chucks (2009) und Nils Mohls Es war einmal Indianerland (2011) wird gezeigt, wie die Zeitordnungen der Erzählungen aufgelöst und verschiedene Wirklichkeitsebenen eingezogen werden. Die Romane operieren mit Erzählinstanzen, die wenigstens partiell als unzuverlässig gelten können. Traum-, Visions- und Fantasiesequenzen spielen eine große Rolle, während die Protagonist*innen der Romane Verluste verarbeiten, was als Argument für die Produktivität utopischer Einbildungskraft genommen werden kann. 

Unter dem Aspekt der Fluchtthematik werden vier Romane untersucht: Paul Hochgatterers Wildwasser (1997), Tamara Bachs Busfahrt mit Kuhn (2004) sowie Wolfgang Herrndorfs Tschick (2010) und Bilder deiner großen Liebe (2014). Es wird gezeigt, wie die Erzählungen das Fluchtmotiv als Symbol für ein sehnsüchtiges und insofern utopisches Verhältnis zu einer als defizient erfahrenden Welt operationalisieren. Erneut wird deutlich, dass (Tag-)Träumereien mit der Fluchtthematik interagieren und Anlass zu sehr grundsätzlichen Reflexionen über das Verhältnis von Wunsch und Wirklichkeit geben. Unter dem Aspekt der Darstellung von Cliquen werden Nils Mohls Mogel (2014) und Verena Güntners Es bringen (2014) hinzugezogen, wobei klar wird, dass Cliquen in den Romanen als gleichzeitig ermöglichende und limitierende Bedingung für eine experimentelle, durchaus utopisch motivierte Identitätsarbeit in der Adoleszenzphase inszeniert werden.

Kritik

Es gelingt Paoletić, die Adoleszenzdiskurse mehrerer Wissenschaftsdisziplinen für seine Fragestellung zusammenzuführen und auszuwerten. Die Dissertation steht, auch wenn sie ein literaturwissenschaftliches Thema bearbeitet, auf einer breiten anthropologischen und kulturtheoretischen Grundlage, die auch in die Romananalysen einfließt. Im Analyseteil werden die literarischen Texte zu Bewährungsproben für die allgemeine Theorie von Adoleszenz und Utopie, wobei sich zeigt, dass beide – Adoleszenz und Utopie – „einerseits alten Schablonen treu bleiben, andererseits aber stets unbekannte Facetten zeigen und neue Auswirkungen hervorrufen“ (S. 269). Dabei erweist sich die Untersuchung in zwei Richtungen als anregend: Erstens gattungstheoretisch, denn letztendlich basieren Konzeptionen des Adoleszenzromans immer auf Beschreibungen von Adoleszenz. In diese kann Paoletić die anthropologischen Überlegungen insbesondere von Ernst Bloch, Karl Mannheim und Ágnes Heller einbringen, um zu zeigen, wie Adoleszenz und Utopie interagieren; dabei entscheidet sich Paoletić für ein weites Utopiekonzept, über das man sicherlich weiter diskutieren kann. Jedenfalls aber erweist sich die Denkform Utopie – zweitens – als eine sehr einträgliche heuristische Kategorie für die Analyse des Romankorpus. Die Romananalysen zielen oft auf die Ebene des Stofflichen oder Thematischen, etwa wenn es um die Beschreibung von (Alb-)Träumen oder Fluchtversuchen geht. Sie führen aber regelmäßig auch ins Formale, wenn die Raumsemantik untersucht wird, oder wenn beschrieben wird, wie verschiedene Ebenen der Diegese miteinander verzahnt werden, um das Verhältnis der utopischen Einbildungskraft der adoleszenten Protagonist*innen zu der sie umgebenden Wirklichkeit erzählen zu können. Die Analysen der Romane sind gewinnbringend. Hier und da ließe sich der seit 2018 erweiterte Forschungsstand noch gründlicher einbringen und an einigen Stellen könnte die Argumentation noch weitergeführt werden, zum Beispiel hinsichtlich des Traumdiskurses in Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe. Letztendlich spricht das aber für die anregende Untersuchung. Zu den Impulsen für weitere Forschungen, die von der Arbeit ausgehen könnten, gehört die Frage, ob und wie im Adoleszenzroman auch die Ideologie – laut Mannheim ein ebenso seinstranszendierendes Denken wie die Utopie (1929, S. 172) – thematisiert wird.

Fazit

Die Utopie scheitert nie. Geschichte und Gegenwart des deutschsprachigen Adoleszenzromans ist eine reichhaltige, anregende, dabei unterhaltsame und gut lesbare Studie. Sie ist ein Gewinn für alle, die einen Überblick zur Theorie des Adoleszenzromans benötigen, sich für seine postmodernen Ausprägungen interessieren oder sich mit dem theoretischen sowie literarischen Diskurs zur utopischen Einbildungskraft beschäftigen wollen.

Literaturverzeichnis

Ewers, Hans-Heino: Jugend – ein romantisches Konzept? Die zweifache Bedeutung der Romantik in der Geschichte moderner Jugendentwürfe. In: Jugend – ein romantisches Konzept? Hrsg. von Günter Oesterle. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1997. S. 45-60.

Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. 7. Aufl. Frankfurt/M.: Klostermann, 1985 (1929).

Titel: Die Utopie scheitert nie. Geschichte und Gegenwart des deutschsprachigen Adoleszenzromans
Autor/-in:
  • Name: Vito Paoletić
Erscheinungsort: Baden-Baden
Erscheinungsjahr: 2024
Verlag: Georg Olms Verlag
ISBN-13: 978-3-487-16782-4
Seitenzahl: 288
Preis: 69€
blaues Buchcover mit zwei weißen Umrandungen zweier jugendlicher Personen, eine sitzend, eine stehend, zu Vito Paoletićs Monografie Die Utopie scheitert nie. Die Utopie scheitert nie. Geschichte und Gegenwart des deutschsprachigen Adoleszenzromans