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Haro Senft ist ein Kinosaurier. 1962 zählte er zu den Oberhausener Rebellen, die mit dem Oberhausener Manifest den radikalen Bruch mit den bestehenden Produktionsverhältnissen verlangten und auch herbeiführten. Der Junge Deutsche Film – Senft hat ihn maßgeblich mit entwickelt. Er war auch der erste Filmemacher, der mit Ein Tag mit dem Wind (1978) ein Roadmovie für Kinder gedreht hat.
Aus heutiger Sicht fällt es schwer, sich Senft als einen lautstarken Rebellen vorzustellen; In seinen Filmen sind es eher die leisen Töne und nachhaltigen, präzisen Bilder, die sich einprägen. Doch schon mit seinen ersten Filmen XY (1955, handgemalter Farbfilm ohne Kamera) und Die Brücke (1956, eine abstrahierte Studie über Entfremdung) brach er radikal mit den Konventionen des deutschen Kinos der Adenauer-Ära, namentlich der Heimat- und Wirtschaftswunder-Filme. Zu Beginn der 1970er Jahre wandte er sich dem Kinderkino zu – und wieder beschritt er neue Wege, ließ sich von Kindern und ihrer Phantasie leiten und fand so kongeniale Bilder für ihre Träume und Nöte.
Haro Senft hat sich stark gemacht für einen neuen deutschen Kinderfilm und sich in Gremien und vor allem in der Gründungsphase des Fördervereins Deutscher Kinderfilm engagiert. Nicht nur im Kinderkino im Olympiadorf München war er ein gerngesehener Gast, der Kinder, Eltern und Multiplikatoren gleichermaßen ansprach.
Es ist erstaunlich, dass erst jetzt eine umfassende Publikation über das Leben und Wirken von Haro Senft erschienen ist. Zeitgleich mit der Verleihung der "Berlinale Kamera" veröffentlicht die Filmhistorikern Michaela S. Ast mit Vogelfrei im Zauberbaum – Aus dem Leben des Filmrebellen Haro Senft die lange fällige Gesamtschau auf Senfts Leben und Werk. Die chronologisch erzählte Autobiographie wird von der Autorin durch ergänzende Kommentare und Informationen kenntnis- und faktenreich aufbereitet, angereichert durch Reminiszenzen einiger seiner Weggefährten sowie seltene Dokumente und Fotos.
In den Lebenserinnerungen nehmen die Kindheit des 1928 in Böhmen geborenen Senft, seine Einberufung als 15-jähriger Schüler zum "Kriegshilfsdienst" während des Zweiten Weltkriegs, Internierung und Vertreibung, bei der er "vogelfrei" war, einen wichtigen Platz ein. Prägend für sein weiteres Leben war die Zeit als Luftwaffenhelfer, die seine "kritische Haltung gegenüber diversen Obrigkeiten und vor allem deren überheblichem Gehabe besser verstehen" lassen.
Bereits erste Filmerfahrungen als Produktions- und Aufnahmeleiterassistent beim konventionellen Unterhaltungsfilm Anfang der 1950er Jahre ließen ihn in Opposition zum etablierten Film gehen. Rückblickend erinnert er sich: "Alles ging sehr rational zu, gut organisiert aber keinesfalls locker. Der Blick auf Kostenstände dominierte mehr oder weniger unsichtbar das ganze Geschehen. Ich erlebte, wie der Kameramann Georg Bruckbauer im Atelier in Tränen ausbrach, weil er beim Einleuchten einer Szene zu mehr Schnelligkeit angetrieben wurde. Mir wurde immer klarer: So darf man keine Filme machen." Künstlerisch frei zu sein und neue Wege zu beschreiten bedeuteten Senft während seines filmischen Schaffens weitaus mehr als kommerzielle Erwägungen – eine Haltung, die sich in dieser Publikation in vielen Details wiederspiegelt.
1957 gehörte er mit zu den Begründern der Produktion Filmform oHG, unter deren Namen auch der Aufruf "filmform – das dritte Programm" veröffentlicht wurde. Die Forderung nach künstlerischer Freiheit, wirtschaftlicher Unabhängigkeit und nach einem Kuratorium zur Sicherung dieser Ansprüche ist der wenig bekannte schriftliche Vorläufer des Oberhausener Manifests. Es ist das Verdienst von Michaela S. Ast, das hinreichend Bekannte mit interessanten, weniger bekannten Hintergrundinformationen in Zusammenhang zu bringen.
1959 gründeten einige Münchner Filmemacher die DOC 59 – Gruppe für Filmgestaltung. Ein gemeinsames Vorgehen sollte bessere Arbeitsbedingungen schaffen. Die meisten der Mitglieder sollten später auch das Oberhausener Manifest unterzeichnen. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Beschreibung der Schwabinger Filmszene mit ihren Cafés und Gaststätten. Auf immerhin vier Seiten werden die Lokalitäten und ihre Besonderheiten amüsant kommentiert.
Über das Oberhausener Manifest wurde nicht zuletzt anlässlich des 50sten Jahrestages 2012 viel geschrieben. In diesem Buch werden aus einem persönlichen Stimmungsbild heraus Details aufbereitet, die in der filmgeschichtlichen Aufarbeitung dieser Phase untergegangen sind oder in ihrer Darstellung korrigiert werden – wie beispielsweise die Rolle von Alexander Kluge als "Anführer und Sprecher" der Gruppe. Senft erinnert in diesem Zusammenhang an die politische Situation in Deutschland Anfang der 1960er-Jahre und an die desolate Lage der deutschen Filmwirtschaft. Das muss man wissen, um die Motivation der Unterzeichner und ihren Entschluss, an die Öffentlichkeit zu treten, zu verstehen. Es ist ein Verdienst des Buches, in diesem Zusammenhang auch die negative Resonanz in der konservativen Presse (FAZ) und linken Filmkritik zu dokumentieren; letztere stand der Oberhausener Gruppe ablehnend bis feindlich gesinnt gegenüber. Auch Haro Senft bekam das zu spüren. Dazu sein Kommentar: "Mit meinem Spielfilmerstling Der sanfte Lauf wurde ein 'Meuchelmord' versucht, sein Inhalt wurde vielfach missverstanden oder gar nicht erst verstanden. Und so mussten 30 Jahre vergehen, bis er neu entdeckt wurde."
Anfang bis Mitte der 1960er Jahre leistete Haro Senft gemeinsam mit anderen jungen Filmschaffenden die Vorbereitungen zur Gründung des Kuratoriums Junger Deutscher Film. Parallel zu den Dreharbeiten zu Der sanfte Lauf (1967) intensivierten sich die Vorbereitungen zur Arbeitsgemeinschaft Neuer Deutscher Spielfilmproduzenten (ARGE) und die Versuche, bei der Gestaltung des Filmförderungsgesetzes (FFG) mitzuwirken.
Kritik
Vogelfrei im Zauberbaum bietet klassische Lebenserinnerungen und ist zugleich ein filmhistorisches Dokument. Vor allem die persönlichen Schilderungen von Weggefährten wie Ursula Seiz, Cutterin bei Patience, Auto Auto und Plakate der Weimarer Republik, Jürgen Zimmer, Leiter der Vorschulabteilung des Deutschen Jugendinstituts, Klaus Müller-Laue, Kameramann von Fegefeuer, Pavel Juráčeks oder Kurt Lorenz, Kameramann von Ein Tag mit dem Wind und Rappelkiste geben lebendige Einblicke in das Leben und Schaffen des Filmemachers. So erinnert sich Kurt Lorenz: "Es war ein wunderschönes Arbeiten, bei dem es so gut wie keiner erklärenden Worte bedurfte, jeder kannte den anderen und vertraute ihm. Haro verstand es meisterhaft, die 4- und 5-jährigen Kinder so in den Bann der Geschichte zu ziehen, dass es beim Drehen keiner Regieanweisungen mehr bedurfte. Er hockte mit ihnen abseits auf dem Boden und erzählte ihnen Geschichten, die sie dann einfach lebten. Sie spielten drauflos und wir drehten so, wie es kam. Und es kam großartig." Haro Senft wiederum schreibt: "So kann man sagen, dass alle Filme eine Dokumentation meiner jeweiligen Gegenwart darstellen und einen Anteil meiner unmittelbaren Erfahrung der Wirklichkeit haben. Das Ziel war, dem authentischen Dokument sehr nahe zu kommen."
Fazit
Maxim Gorki wurde einmal gefragt: Wie muss man schreiben, wenn man für Kinder schreibt? Seine Antwort: Wie für Erwachsene, nur besser! Im übertragenen Sinne gilt dies auch für das Selbstverständnis des Filmemachers Haro Senft. Seine in dem Buch von Michaela S. Ast nachzulesenden Drei Aufsätze zur Filmkunst aus den Jahren 1956, 1986 und 2010, sollten heute Pflichtlektüre an allen Filmhochschulen sein.
- Name: Ast, Michaela S.