Inhalt
Die Mutter des zwölfjährigen Conor ist schwerkrank. Die Großmutter kommt ihn besuchen. Conor soll nach dem Tod seiner Mutter bei ihr wohnen und wehrt sich dagegen. Der Tod scheint unvermeidlich, aber der Junge hofft noch auf die Gesundung. Tagsüber hat Conor in seiner Schule mit Schulhof-Bullies zu kämpfen, nachts wird er immer wieder vom selben Albtraum geplagt: Er ist auf dem Friedhof, der nicht weit entfernt von seinem Haus liegt, und mit einem Mal bricht der Boden unter seinen Füßen weg. Eines Nachts, um sieben Minuten nach Mitternacht, verwandelt sich die Eibe auf dem Friedhof in ein Baummonster und steht vor seinem Haus. Es kündigt an, ihn von nun an weitere Male um diese Zeit zu besuchen und ihm drei Geschichten zu erzählen. Nach diesen drei Geschichten soll Conor ihm seinen Albtraum erzählen – in ihm soll die Wahrheit zu finden sein.
Kritik
Der englische Titel des Films ist ungleich schöner als der deutsche. A Monster Calls lässt sich als Horror, Fantasy und als Coming-of-Age-Drama zugleich begreifen oder, auf metafktionaler Ebene, als Erzählung einer Analyse: das Monster als Analytiker, das Kind als Analysand, dem eine verborgene, sorgfältig verdrängte, aber quälende Wahrheit über sich selbst aufgehen soll. Letztere ist in diesem Fall nicht ohne existenzielle Traurigkeit zu haben. Dass der Regisseur Juan Antonio Bayona die Traurigkeit der Protagonisten seiner Filme mit einer niederschmetternden Durchschlagskraft auch dem Publikum einzuimpfen versteht, hat er bereits mit seinem Debütfilm gezeigt: Das Waisenhaus mündete in einer schockhaften Schlussvolte. Die Geschichte von A Monster Calls hingegen hat keinen überraschenden plot twist: Die Eibe – im Original wunderbar gesprochen von Liam Neeson – erzählt drei Geschichten, dann erinnert Conor seinen Traum und träumt ihn zu Ende; die Mutter stirbt.
Das narrative Prinzip von A Monster Calls besteht im Ausbuchstabieren der Korrespondenz von phantastischer und realer Welt – eine reflexive Verknüpfung, die Guillermo del Toros Pan's Labyrinth – wenn auch weniger eindeutig dechiffrierbar als A Monster Calls – vorgeführt hat (del Toro ist einer der Produzenten von Das Waisenhaus). In beiden Filmen ist die affektive Wirklichkeit der Phantastik verbunden mit dem erlebten Elend in der Wirklichkeit, die der Protagonist mit den anderen Figuren teilt. Während die Farbgebung in den Szenen, die in der äußeren Wirklichkeit spielen, Tristesse und Statik suggeriert (vgl. Abb. 2), markieren die ungleich intensiveren Farben und die dynamischeren Formen der animierten Märchenerzählungen Affektintensität (vgl. Abb. 3). Die wunderbar animierten Sequenzen, für die Adrián García mit seinem Studio Headless verantwortlich war, schließen weniger an die filmische Cartoon-Tradition als an zeitgenössische Graphic-Novel-Techniken an.
In den Geschichten des Monsters wird ausagiert, was ansonsten nur eine Ahnung bleibt. Die Bezugnahme der Phantasie auf die Wirklichkeit zeigt sich bereits an der ersten Geschichte, einem expressiv getuschten Märchen: Ein König verliert seine drei Söhne im Kampf gegen Riesen und Drachen, auch die Mutter seiner Kinder ist verstorben, sein Enkel wird der Prinz des Reiches. Der König heiratet erneut. Als er krank wird, gerät die Stiefmutter des Prinzen in Verdacht, ihren Mann zu vergiften. Der König stirbt, die Königin besteigt als Herrscherin den Thron für ein Jahr und macht Anstalten, ihren Stiefenkel zu heiraten. Der Prinz flüchtet mit seiner Geliebten, einer Bauerstochter, doch die wird, unter der Eibe liegend, ermordet.
Diese simple Geschichte hat wie auch alle folgenden für Conor eine analytische Funktion. In dem, was die Eibe ihm gleichsam zu bedenken gibt, werden die Konflikte, die das Leben des Jungen bestimmen, durchgearbeitet. Die Übertragung von der einen Welt in die andere ist für alle einsichtig: für den Jungen, für das Publikum.
Bewusst wird zum Beispiel in der Prinzengeschichte, was von Conor nur unterschwellig geahnt werden kann: Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen, und sie bekommen nicht, was sie verdienen. Es war der Prinz, der die Bauerstochter ermordet hat, damit das Volk die Königin beschuldigt und sie davonjagt. Die Stiefmutter ist eine Hexe, das vermutlich schon, aber eine Mörderin ist sie nicht. Es gibt ein Dazwischen, und in diesem wird Conor am Ende auch seine ungeliebte Großmutter verorten können. Die grundlegende Lektion, dass das Leben kompliziert ist, und dass die, die man für gut hält, böse sein können, während die, die man für böse hält, es verdienen, gerettet zu werden, liest sich eventuell banal. Als animierte Bilderfolge, die sich in einem überbordenden Farbrausch entfaltet, ist sie es nicht – schlicht weil sie das, was Conor lernen muss, nicht behauptet, sondern spürbar werden lässt.
A Monster Calls erzählt vom lebensrettenden Potenzial imaginierter Welten, und man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass dieser Film, wenn er auf den richtigen Zuschauer trifft, eine ähnliche Funktion übernehmen kann, wie die Geschichten, die Conor von der Eibe zu hören bekommt. Nicht das zu Übertragende ist das Geheimnisvolle, es liegt alles offen in diesem Film, ohne dass die Verbindungen zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit dadurch schematisch würden. Das Thema oder auch: das Magische, das diesen Film beseelt, ist das Prinzip des Kinos selbst bzw. jedes Erzählmediums, dort, wo es seine Erfahrungspotenziale realisiert. Man überträgt die Aspekte des Erzählten, die sich mit der eigenen Erfahrung verbinden lassen, intuitiv auf das eigene Leben. In diesem Prozess kann tatsächlich, hin und wieder, so etwas wie die Möglichkeit der Durcharbeitung entstehen.
In den drei Märchen – von denen das dritte allerdings vergleichsweise hastig abgehakt wird – zeigt A Monster Calls wie der Akt des Erzählens einem zutiefst unglücklichen Kind die Möglichkeit gibt, mithilfe eines Mediums – Märchen in diesem Fall – Zugang zu seinen Emotionen zu finden. Damit trifft A Monster Calls nicht zuletzt eine Aussage über das eigene Medium. Diese Selbstreflexivität bedeutet für den Zuschauer in diesem Fall nicht etwa die Freude an der Metaebene und an der eigenen Cleverness, sondern ein Nachdenken über den Schmerz.
Die beiden übrigen Geschichten verfahren strukturell ähnlich, ob es um die Erkenntnis geht, dass der Mutter nicht zu helfen sein wird, oder um die Mobbing-Erfahrungen, die Conor an seiner Schule machen muss. In der Hinsicht, dass der Film seine Geschichten-in-der-Geschichte nicht nur zeigt, sondern einen wesentlichen Teil seiner nicht geringen emotionalen Kraft aus dem Aufzeigen der Funktion dieser Geschichten bezieht, ist er eine Art selbstreflexive Fantasy, deren Plotprämisse sich gleichsam bis in die Entstehungsgeschichte des Primärtextes fortschreibt: Patrick Ness, Autor der Romanvorlage, übernahm die Idee zu dem Buch und die ersten Ausarbeitungen des Plotverlaufs von der Kinderbuchautorin Siobhan Dowd, die im Alter von 47 Jahren an einer Krebserkrankung gestorben war, bevor sie das Buch fertigstellen konnte.
Auch das überraschend tröstliche Ende ist verbunden mit der Wirkungsmacht symbolischer Welten: Die Mutter, einst Kunststudentin, bleibt in den Bildern enthalten, die sie als junge Frau gemalt und dem Sohn hinterlassen hat. Auf mehreren zu sehen, unerklärlicherweise: die Eibe. Eine stimmige Idee vom Weiterleben nach dem Tod. "Conor held tightly onto his mother. And by doing so, he could finally let her go."
Tröstliches Ende hin oder her, ist das natürlich alles nur zum Heulen.
Fazit
Juan Antonio Bayonas Film lässt nachvollziehbar werden, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren. Sieben Minuten nach Mitternacht versucht, seine Geschichte so emotional wie möglich zu erzählen – auch der tröstliche Schluss nimmt dem Geschehen nichts von seiner emotionalen Wucht. Indem er Märchenerzählungen und die Wirklichkeit der Figuren einander gegenüberstellt, legt er auch jungen Zuschauerinnen und Zuschauern ab 14 Jahren nahe, über das Verhältnis von Literatur und Leben nachzudenken.
- Name: Bayona, Juan Antonio
- Name: Ness, Patrick