Inhalt
Fanny Funke, siebzehn Jahre, Schulabbrecherin aus Achim bei Bremen, ist Jahrespraktikantin im Château Janvier, auch genannt Wolkenschloss, einem alten Grandhotel in den Schweizer Bergen. Dort ist sie als Mädchen für alles unterwegs und versucht den vielen Gästen, die extra für den alljährlichen Silvesterball anreisen, einen glamourösen und erholsamen Aufenthalt zu ermöglichen. Dabei hat sie es mit den verschiedensten Persönlichkeiten zu tun: Russische Oligarchen, eine amerikanische Großfamilie, ein teuflisch hinterhältiger Neunjähriger und ein reizendes altes Ehepaar sind nur einige Personen, mit denen sie zu kämpfen hat.
Mit dem Eintreffen dieser Gäste halten jedoch auch Gerüchte über einen legendären Diamanten, einen Koffer voller Schwarzgeld und den Grand-Hotel-Kidnapper (eine berüchtigte Gestalt, die kleine Kinder reicher Familien aus Hotels entführt, um daraufhin Lösegeld zu fordern) Einzug in Fannys Leben. Während sie unter den strengen Augen der Hausdame Fräulein Müller weiter ihre Pflichten erfüllt, versucht sie zugleich, aus diesen Gerüchten und den vielen Geheimnissen der Hotelgäste schlau zu werden.
Ehe sie sich versieht, gerät Fanny in ein Abenteuer, bei dem es um Leben und Tod geht – und, als wäre das nicht schon genug, ist sie auch noch hin und her gerissen zwischen zwei Jungen: Ben, der charmante und nette Hotelierssohn, der ihr dabei hilft, sich einen Reim auf die Geschehnisse zu machen, und Tristan, ein gutaussehender und mysteriöser Gast, der scheinbar ein Faible fürs Fassadenkletterern hat.
Kritik
Der unverwechselbar leichte und humorvolle Gier‘sche Schreibstil sorgt auch in diesem Buch für eine wohlige Atmosphäre. Gewohnt jugendlich und unterhaltsam beschreibt Gier Fannys Werdegang als 'Prakti' im winterlichen Château Janvier, die Beschreibungen von Fannys Gedanken sind hierbei besonders bildreich und lebendig. Vor allem ihre Interaktionen mit den zickigen Aushilfszimmermädchen (genannt Hyänen) und dem verschlagenen Don Burkhardt junior, einem neunjährigen Jungen, der ihr das Leben zur Hölle machen will, sorgen für den einen oder anderen Lacher. Das Hotel ist dabei sehr liebevoll und genau beschrieben, sodass sich dem Leser ein detailliertes und umso zauberhafteres Bild des Wolkenschlosses bietet:
Es war seltsam, das Hotel von oben zu betrachten, es sah aus wie eine märchenhafte, zerklüftete Felsformation, die aus dem Schnee herausragte, als sei sie ein Stück vom Berg. Je tiefer wir uns abwärts sinken ließen, desto mehr Einzelheiten konnte ich erkennen, die steilen Turmdächer, die schmiedeeiserne Dachreling, das große Oberlicht über dem Treppenhaus – wie bei einem viktorianischen Gewächshaus. (S. 99)
Auffällig an Wolkenschloss ist, dass es sehr viele Figuren gibt: Neben den Angestellten und den unzähligen Gästen des Hotels tauchen hin und wieder auch Personen aus Fannys Heimatstadt auf, zudem sind auch ein paar tierische Gefährten und vermenschlichte Waschmaschinen zugegen. Das Personenverzeichnis am Ende des Buches ist somit nicht nur eine Liste lustiger und typisch Gier‘scher Beschreibungen der Figuren ("Namevergessen gehört auch zur Gattung der Hyänen. Weder Fanny noch die Autorin können sich ihren Namen merken." S. 443), sondern auch ein nützliches Hilfsmittel, um nicht den Überblick zu verlieren. Gier hat es jedoch geschafft, sie alle individuell auszuarbeiten und so jeder Figur einen Zweck und einen Platz in dem Roman verliehen. Selbst die Tiere sind soweit als Figuren entwickelt, dass Fanny den sieben Bergdohlen, die sie regelmäßig an ihrem Fenster besuchen, Namen geben kann, die eigens auf ihre Persönlichkeiten zugeschnitten sind. Zwar heißen sie alle Hugo, die Variationen reichen jedoch vom 'melancholischen Hugo' über den 'kleptomanischen Hugo', bis hin zum 'wirklich unglaublich verfressenen Hugo'.
Diese außerordentlich detaillierte Ausarbeitung der Figuren hat jedoch auch ihren Preis: Sie nimmt sehr viel Platz ein. Der Großteil des Romans befasst sich mit der Einführung der vielen Personen und der Etablierung, bzw. Darstellung ihrer Beziehung zu der Protagonistin Fanny. Spannung kommt erst kurz vor Ende des Buches auf, ungefähr im letzten Viertel, davor ist es recht handlungsarm und langatmig. Dank Giers besonderem Schreibstil, dessen Charme und ihrem Humor ist dieser Teil von Wolkenschloss aber keineswegs schwerfällig oder langweilig zu lesen. Hiernach legt die Handlung eine regelrechte Wende hin; Auf einmal überschlagen sich die Ereignisse, Fanny befindet sich in einer spannenden Verfolgungsjagd und ehe man sich versieht, ist man auch schon am Ende des Buches angelangt. Zuvor war die Erzählzeit durch die vielen Erläuterungen der Figuren und Gedankengänge der Protagonistin größtenteils länger als die erzählte Zeit, teilweise wurde sie auch gerafft, innerhalb des letzten Teils der Erzählung deckten sie sich jedoch einigermaßen. Dieser letzte Teil ist außerdem voll von überraschenden Wendungen, mit denen weder Fanny und aufgrund der gewählten Ich-Erzählperspektive noch die Leserinnen und Leser rechnen konnten.
Wolkenschloss ist, im Gegensatz zu Giers Edelstein- oder Silber-Trilogie, ein Einzelband, es hätte jedoch durchaus das Potenzial, den Auftakt einer neuen Reihe darzustellen. In der Edelstein-Trilogie ging es um Zeitreisen, in Silber konnten die Protagonisten in die Träume anderer Menschen eintreten und auch Wolkenschloss weist einige Urban Fantasy-Elemente auf, die jedoch eher in den Hintergrund treten. Als beispielsweise Windstöße aus dem Nichts auftauchen, um Türen zuzuschlagen und Wasserleitungen verrückt spielen und die Zicken-Aushilfen nassspritzen, um Fanny zu schützen, entsteht bei den Lesenden der Eindruck, dass das Hotel ein zeitloses, eigenständiges und fast schon lebendes Gebäude darstellt. Sie scheint diese Momente jedoch nicht zu hinterfragen und konzentriert sich lieber auf ihre Arbeit. Das Hotel ist zudem nicht die einzige scheinbar zeitlose Instanz in Wolkenschloss: Auch Monsieur Rocher, der gutmütige Concierge, stellt ein Rätsel dar. Gelegentlich gibt er Äußerungen von sich, die ihn nicht nur von der Zeit, sondern auch von der Menschheit abheben. ("Auf jeden Fall seid ihr Menschen um die Eifersucht wirklich nicht zu beneiden." S. 229) Besonders der Moment, in dem einer der Gäste ihn erkennt, scheint ihn zu entlarven:
Ich habe mich sehr darüber gefreut, wie wenig sich hier verändert hat. Als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Dreißig Jahre lang. Sogar das Telefon ist noch dasselbe. Und Sie – Sie haben sich auch kein bisschen verändert. Obwohl das ja gar nicht sein kann. Es war wohl Ihr Vater, der mir so geholfen hat? (S. 139)
Auch dieser Austausch und ähnliche Situationen werden von der Protagonistin nicht hinterfragt und somit im Roman aufgrund der Erzählperspektive nicht weiter erwähnt. Ein weiteres 'magisches' Fragezeichen stellt 'Die Verbotene Katze' dar (die so heißt, weil Tiere im Hotel eigentlich nicht erlaubt sind, sie aber trotzdem existiert). Diese hat nicht nur ihren eigenen Willen und taucht immer genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort auf, sondern scheint ebenfalls aus einer anderen Zeit zu stammen ("Der Chef sagt, die Katze sei schon im Haus gewesen, als er hier als Koch angefangen habe. […] Und das war 1989." S. 107). Wie zuvor hinterfragt Fanny jedoch nichts. Dass Gier eine so naive und sprunghafte Protagonistin gewählt hat, trägt dazu bei, die Leserinnen und Leser in diesem Zusammenhang im Dunkeln tappen zu lassen, wo sie eigentlich mehr wissen möchten. Bei Geschichten um einen hauseigenen Geist scheint sie schon hellhöriger zu sein (und begegnet diesem scheinbar sogar), dies bleibt jedoch ebenso ungeklärt. Der Epilog am Ende des Buches stellt hierzu auch keine Hilfe dar, er gibt lediglich einen Einblick in Fannys Leben einige Monate nach dem Silvesterball. All diese angedeuteten fantastischen Elemente tragen zu der magischen, geheimnisvollen Atmosphäre des Buches bei, gleichzeitig fehlt es ihnen aber an Tiefe.
Wolkenschloss weist insgesamt Ansätze verschiedenster Genres auf (neben kleinen Abstechern in die Fantasyliteratur, erinnert das Buch beispielsweise außerdem an einigen Stellen, vor allem im letzten Viertel, stark an einen Kriminal- oder Detektivroman), es lässt sich jedoch nicht vollständig einordnen. Nach Giers bisherigen Jugendbuchreihen waren die Erwartungen an einen weiteren fantastischen Roman groß, die zuvor erwähnten ungeklärten Aspekten erweckten auch den Anschein, dass es sich hier um eben so einen Roman handelt. Diesen Aspekten wurde allerdings, wie ebenfalls bereits erwähnt, nicht nachgegangen, obwohl Gier mit ihnen vermutlich sogar eine weitere Trilogie hätte füllen können. So, als Einzelband mit lückenhafter Handlung, kann Wolkenschloss leider nicht ganz mit den Vorgängern mithalten.
Fazit
Wolkenschloss ist, vor allem aufgrund des Schreibstils, aber auch dank der Thematik und des zauberhaften, winterlich-weißen Settings ein Wohlfühlbuch, das zum Schmunzeln und zum Mitfiebern anregt. Im Gegensatz zu bisherigen Jugendbüchern von Kerstin Gier fehlt diesem jedoch das gewisse, magische Etwas, somit kann es nicht vollständig überzeugen. Trotzdem handelt es sich um ein schönes Buch, dass Jugendliche ab 12 Jahren in ein magisches Schloss in den Wolken entführt.
- Name: Gier, Kerstin