Inhalt
Gelangweilt vom Alltag suchen die Freunde Tino (Florian Renner), Elyas (Elyas M’Barek), David (Mike Adler) und Achim (Jacob Matschenz) den nächtlichen Kick, indem sie sich an Bahnen und Gebäuden mit ihren Graffitis verewigen. Zugleich gilt es sich auch mit immer aufwändigeren Kunstwerken gegen eine weitere Gruppe von Sprayern zu behaupten und das eigene Revier zu markieren. Als die Konkurrenz immer besser wird, scheint nur noch ein so genannter „Wholetrain“ – ein komplett besprühter Zug – die angekratzte Ehre der Clique retten zu können. Doch nicht nur die Polizei setzt den Jugendlichen mehr und mehr zu, auch deren private Probleme verdichten sich zunehmend. Schule, Jobs und Vaterpflichten lassen sich nur schwer mit ihrem Doppelleben vereinbaren. Letztlich muss nicht nur der junge Vater Tino lernen Verantwortung zu übernehmen und erwachsen zu werden. Während der schüchterne Neuling Achim immer tiefer in die Szene eintaucht, erwägt Anführer David den Rückzug. Als die Aktionen der Truppe immer waghalsiger werden und sich die polizeiliche Schlinge immer enger um die Jugendlichen zieht, verändert ein tragischer Unfall schließlich alles.
Kritik
Der Film Wholetrain gewährt Einblick in die Graffiti-Szene als Subkultur mit ganz eigenen Regeln, Hierarchien und eigenem Vokabular. Für die vier Hauptfiguren stehen der Zusammenhalt innerhalb der Gruppe und ein gemeinschaftliches Ehrgefühl an erster Stelle. Das Sprayen sorgt bei den Jugendlichen für den nötigen Nervenkitzel und wird so nicht zuletzt zu einer Form der Alltagsflucht. Verpflichtungen wie Schule, Arbeit, Fußballtraining oder gar Vaterpflichten, geraten so zur Nebensache und werden vernachlässigt. Regisseur Florian Gaag (*1971) schöpft dabei aus seinen eigenen Erfahrungen als aktiver Sprayer und vermag auf diese Weise ein absolut authentisches Bild der deutschen Graffiti-Szene zu vermitteln.
Nicht nur die drohenden rechtlichen Konsequenzen ihrer nächtlichen Taten, sondern auch die bisher vernachlässigten Verpflichtungen des Alltags zwingen die Gruppenmitglieder zum Nachdenken. Die Clique muss sich zunehmend den Herausforderungen des Erwachsenwerdens stellen. Die äußerst unterschiedlichen Charaktere ermöglichen es Regisseur Gaag, neben den Konflikten des Sprayer-Daseins auch verschiedene individuelle Probleme anzusprechen. Anführer David bildet den Ruhepol der Gruppe und scheint als Einziger ernsthaft daran interessiert, seine Zukunft aktiv in die Hand zu nehmen. Das Studium an einer Kunsthochschule erscheint ihm als geeignete Möglichkeit seine Kreativität in gesellschaftlich akzeptiertem Rahmen auszuleben. Sein Gegenstück ist der impulsive und unvorsichtige Tino, der nicht nur mit seiner Rolle als junger Vater gänzlich überfordert scheint. Sein Unwille, sich in die Gesellschaft einzuordnen, wird durch seine anfängliche Weigerung, eine Monatskarte für Bus und Bahn zu kaufen, verdeutlicht. So ist es auch Ironie des Schicksals, dass jene Monatskarte für Tino letztlich zum Verhängnis wird und die Polizei auf seine Spur bringt.
Letztlich ist Wholetrain somit nicht nur ein Portrait der Graffiti-Szene, sondern kann auch als Film über eine gescheiterte Adoleszenz verstanden werden. Das Unvermögen, einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen und in den Alltag zurück zu finden, stellt ein zentrales Thema des Dramas dar. Schien Tino dazu ohnehin nicht bereit, so reißt dessen Tod auch David wieder aus geregelten Bahnen. Nur innerhalb der Szene hat der Unfall für Veränderung gesorgt, so dass sich die verfeindeten Gruppen in bester Shakespeare-Manier endlich versöhnen.
Die Untermalung durch HipHop-Musik erweist sich als äußerst gelungen, zumal die Songtexte an die jeweilige Situation angepasst wurden. Bei den nächtlichen Aktionen der Gruppe sorgt bisweilen ein abruptes Aussetzen der Musik für zusätzliche Spannung und signalisiert herannahende Gefahr. Zahlreiche mit Handkamera gedrehte Szenen verleihen dem Film zudem den Anschein einer Dokumentation und führen den Zuschauer noch näher an das Geschehen heran. Auch die junge Darstellerriege um Elyas M’Barek (Türkisch für Anfänger, Zeiten ändern dich) weiß vollends zu überzeugen. Mike Adler und Florian Renner spielten in Wholetrain gar ihre ersten Hauptrollen.
Fazit
Mit Wholetrain hat Florian Gaag ein spannendes Drama gedreht, das dem Zuschauer nicht nur einen authentischen Blick auf die deutsche Sprayer-Szene ermöglicht, sondern auch die ganz persönlichen Probleme seiner jugendlichen Hauptfiguren aufgreift. So handelt es sich neben einer Studie über eine Subkultur auch um einen Film über die Probleme des Erwachsenwerdens und wachsende Verpflichtungen.
Von einer Verteufelung der Jugend sieht Gaag glücklicherweise ab und entwirft ein eher ambivalentes Bild: So wünscht man den Jugendlichen den Absprung in ein geregeltes Leben, doch lassen das bisweilen fragwürdige und überhebliche Verhalten der Polizei sowie die Spießbürgerlichkeit von Achims Eltern daran zweifeln, ob eine solche Konformität tatsächlich erstrebenswert ist. Neben sehr gutem Schauspiel und glaubhaften Dialogen trägt auch der Einsatz von Handkamera zur Authentizität des Films bei. Dessen ungezwungene Machart sicherlich der Grund für den großen Erfolg des Films bei Kritikern aber auch der jugendlichen Zielgruppe ist.
- Name: Florian Gaag
- Name: Florian Gaag