Inhalt
Einige Jahre nach dem Unfalltod ihres Vaters zieht die 17-jährige Liv (Jamie McKinnon) mit ihrer Schwester Mia (Riva Krymalowski) in London beim neuen Freund der Mutter (Nicolette Krebitz) ein. Dieser hat mit Grayson (Théo Augier Bonaventure) und Florence (Gwenaelle Gillet) selbst zwei Kinder in Livs Alter. Auf Grayson trifft Liv unvermittelt auch im Traum wieder – und zwar auf einem Friedhof, wo er mit seinen Freunden Henry (Rhys Mannion), Arthur (Chaneil Kular) und Jasper (Efeosa Afolabi) mit einem Traumbuch ein seltsames okkultes Ritual durchführt.
Am nächsten Tag trifft Liv die Jungen in ihrer neuen Schule auch in der Wachwelt wieder. Durch das Zusammentreffen wird ihr bewusst, dass sie besondere Fähigkeiten hat. Sie ist eine Träumerin und kann, wie auch Grayson, Henry, Arthur, Jasper und andere Jugendliche, durch die Träume anderer Menschen wandeln. Mit dem Traumbuch können die Träumer*innen, die dem Bund der Traumreisenden angehören, die tiefsten Wünsche der Träumenden wahr werden lassen – damit das klappt, muss aber dem Buch zufolge auch eine Jungfrau an den Ritualen teilnehmen. Liv übernimmt diese Position nun von ihrer offenbar in den Traumwelten verschollenen Vorgängerin Anabel (Josephine Blazier).
Was erst wie ein aufregendes Abenteuer wirkt, entpuppt sich zunehmend als gefährliches Unterfangen: Dem Traumbuch wohnt ein Fluch inne, die Grenzen zwischen Wach- und Traumwelt verschwimmen zusehends, und mit den tiefsten Wünschen der Träumenden werden auch die tiefsten Ängste der Traumreisenden wahr. Die Schulsprecherin Persephone fällt dem Fluch zum Opfer, und hinter dem mysteriösen Verschwinden von Anabel steckt mehr, als es scheint. Liv versucht nun mit Hilfe der Jungen, den Fluch des Traumbuchs zu brechen, weiß dabei aber zunehmend nicht mehr, wem sie eigentlich vertrauen kann.
Kritik
Streifen in Rottönen drehen sich langsam vor dem nun erscheinenden silbrig wabernden Schriftzug „Silber“, bis sie sich als aufschwingende Tür eines Zugabteils entpuppen, in das eine Jugendliche mit dunklen, halblangen, halblockigen Haaren verwirrt schaut. In Außenansicht sieht man nun, dass ein Zug mit rot erleuchteten Abteilen durch grün-trübes Wasser fährt, begleitet von monotonem Räderklackern. Während die Waggondecken dem Wasserdruck zunehmend nachgeben, erstarrt die junge Frau kurz, als sie vor den Abteilfenstern nicht nur Fischschwärme, sondern auch den leblosen Körper eines Mannes vorbeiziehen sieht. Als sie noch erstaunt „Dad?“ ruft, bricht sie durch den Abteilboden, der sich als Eisdecke eines Sees entpuppt, in eiskaltes Wasser. Während sie zunehmend verzweifelt versucht, sich aus der Todesfalle zu befreien, schrickt sie aus ihrem Albtraum auf: Liv ist mit ihrer Schwester nach einer Zugfahrt in Londoner Bahnhof St. Pancras angekommen und ist auf der Fahrt eingeschlafen. Sie hat nur geträumt.
In dieser ersten Szene steckt bereits eines der Grundthemen von Kerstin Giers Roman-Trilogie Silber (2013–2015) – die dünne, allzu leicht aufreißende Grenze zwischen Wach- und Traumwelt und ihr gegenseitiges Ineinandergreifen. So zeigt auch in der beschriebenen Filmszene die Bildspur zwar die Traumwelt, aber auf der Tonspur sind auch die Zuggeräusche aus Livs Wachwelt zu hören.
Silber und das Buch der Träume ist mit 86 Minuten Laufzeit ein knackiger, schnörkellos erzählter Coming-of-Age-Film im Fantasy-Gewand, gedreht von Helena Hufnagel (Einmal bitte alles; Generation Beziehungsunfähig). Die Handlung stammt zwar überwiegend aus Kerstin Giers erstem Silber-Roman, wurde aber unter Rückgriff auf Versatzstücke aus den Folgebänden so zusammengesetzt, dass der Hufnagel-Film ein geschlossenes Ganzes bildet, das im Erfolgsfall um weitere Teile ergänzt werden kann. Auch das Drehbuch hat Hufnagel zusammen mit Sina Flammang (Mädchen aus Papier; Die drei ! ! !) und dem Jugendfilmveteranen Christian Ditter (Vorstadtkrokodile, Biohackers, Girlboss) geschrieben.
Die jeweiligen Traumata der jugendlichen Haupt- und Nebenfiguren sind Steigbügelhalter für pittoreske Handlungsorte: ein vernebelter Friedhof findet sich hier ebenso wie zugefrorene Seen, surreale Kinderpuppenhäuser, die Spike Jonzes Science of Sleep eifersüchtig machen würden; oder die an Harry Potter erinnernde Traumhalle, durch deren Türen man in einzelne Träume gelangt. Parallel zu der Frage nach der Grenze zwischen Wach- und Traumwelt (und der Frage, wessen Traum eigentlich gerade durchwandert wird) zieht sich das zweite große Silber-Thema: Wem kann die Protagonistin Liv überhaupt vertrauen, denn nahezu nichts und niemand ist wirklich so, wie er oder sie zu sein scheint.
Die Figur der Liv ist nicht nur im Fokus der Filmhandlung, die sie verkörpernde Schauspieler Jana McKinnon (Wir Kinder vom Bahnhof Zoo) ist es auch, die diesen bisweilen auch etwas zu routiniert erzählten Film trägt, mit ihren ausdrucksstarken Augen, mit ihrer subtilen Mimik und Körpersprache. Dadurch gelingt es ihr, das nur schwer entwirrbare Gefühlschaos ihrer Figur geradezu nebenbei zu vermitteln. Denn Liv wird innerlich aufgezehrt von Schuldgefühlen über den Tod ihres Vaters, der in einem Eissee ertrank, als er seine damals zwölfjährige Tochter retten wollte; sie ist zerrissen zwischen dem Bedürfnis nach örtlicher und familiärer Verankerung und dem gleichzeitigen Wunsch, einfach nur weiterzuziehen an den nächsten Ort, zwischen Zutrauen und Misstrauen gegenüber ihren neuen Freunden, die offensichtlich nicht mit offenen Karten spielen.
Mit Silber und das Buch der Träume wird nun nach der Rubinrot-Trilogie bereits die zweite Romantrilogie der deutschen Erfolgsautorin verfilmt. Silber und das Buch der Träume ist seit dem 8.12.2023 auf Amazon Prime Videos verfügbar. Eine schöne Facette des Streaming-Zeitalter übrigens: Wer will, kann den Film im Originalton mit gemischt deutschen und englischen Dialogen rezipieren.
Fazit
Silber und das Buch der Träume ist ein durch und durch solider und zugleich aufwändig produzierter Film für Fantasy- und Kerstin-Gier-Fans ab zwölf Jahren. Aber auch sonstige Film-Aficionados können sich vielleicht für die Schauspielleistung McKinnons und die spektakulären Traumkulissen begeistern. Die Motivkomplex rund um Trauer, Trauma, Traum/Albtraum bietet vergleichsweise schwere Kost, eine konservative Altersempfehlung wäre deshalb ab ca. 14 Jahren; die FSK-Empfehlung ab 12 ist jedeoch ebenfalls nachvollziehbar.
- Name: Henriette Hufnagel
- Name: Henriette Hufnagel
- Name: Sina Flammang
- Name: Christian Ditter