Inhalt
Die Märchenwelt ist in Aufruhr: Das Therapiezentrum für sozial unverträgliche Märchenfiguren, in dem diese nicht durch harte Strafen, sondern "durch Mitgefühl, Fürsorge und Zuspruch" (Urlacher 2013, 1/01:23) geheilt werden sollen, stößt bei der Mehrheit der Märchenbürgerinnen und Märchenbürgern auf heftigen Widerstand. Antiaggressionskurse, Atemtherapie und Ernährungsumstellungen für potentielle Kinder- und 'Großmütterfresser' sind ihnen viel zu lasch. Vor allem die Fraktion der Hardliner, angeführt durch Gretel, fordert vom leitenden Märchenrat eine härtere Bestrafung ihrer früheren Widersacher: lebenslange Sicherheitsverwahrung im höchsten Turm oder Strafarbeiten wie Erbsen sortieren, den Stall der sieben Geißlein ausmisten oder schlimmer: dauerhafte Abschiebung in die Menschenwelt.
Schließlich wird ein Kompromiss gefunden, bei guter Führung werden die einsichtigen Übeltäterinnen und Übeltätern aus dem Therapiezentrum in die Menschenwelt entlassen, in der sie sich bewähren müssen, um schließlich die Erlaubnis für eine Rückkehr in die Märchenwelt zu erhalten. Das Therapiezentrum wird ein Erfolg, die Knusperhexe etwa betreibt einen erfolgreichen Backshop in der Menschenwelt – nur bei drei Übeltäterinnnen und Übeltätern scheinen die therapeutischen Maßnahmen keine Fortschritte zu zeigen: Rumpelstilzchen neigt nach wie vor zu unkontrollierbaren Wutausbrüchen, der böse Wolf will sich einfach nicht an vegetarische Kost gewöhnen ("Nein, nein, nein, ich will kein Brokkoli, ich will eine Großmutter!", Urlacher 2013/08:11) und Schneewittchens böse Stiefmutter kann es einfach nicht lassen, jeden Spiegel, an dem sie vorbeikommt, auf ihre Schönheit hin zu befragen.
Nichtsdestotrotz gestattet ihnen ihre Gruppentherapeutin Frau Holle eine Bewährungszeit in der Menschenwelt. Die drei landen während der Karnevalszeit in Köln, wo sie rasch die Bekanntschaft mit dem Taxifahrer Mischa und dessen Sohn Linus machen. Ihre beiden neuen menschlichen Freunde haben ganz eigene Probleme: Linus möchte Anerkennung bei seiner Lehrerin und seinen Mitschülern finden, indem er während des Karnevalsumzugs einen Platz auf dem Festwagen erhält; Mischa ist finanziell von seinem Stiefvater und dessen Sohn abhängig, die ihn um sein Erbe gebracht haben und nach Strich und Faden ausbeuten. So entfaltet sich eine märchenhafte Geschichte, die immer an Aschenputtel erinnert.
Kritik
Selbstredend muss auch ein modernes Märchen mit "Es war einmal" beginnen und mit "Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute" enden. Das Korsett des Märchens wird jedoch immer wieder aufgebrochen: durch Übergänge von der Märchenwelt in die vermeintlich reale sowie durch popkulturelle und selbstreferenzielle Bezüge, die einen Großteil der Komik in diesem Hörspiel ausmachen – ohne dabei jedoch gänzlich ins Parodistische abzugleiten, wofür der folgende Dialogauszug als beispielhaft gelten kann:
Rumpelstilzchen: Und, warum trägst du einen grünen Umhang?
Linus: Das ist ein Power Ranger-Umhang. Seht ihr das nicht?
Dunkle Königin: Bitte was?
Mischa: Modernes Märchen.
Linus: Ich befreie die Welt vom Bösen.
Dunkle Königin: Na, willkommen im Club.
Mischa: Jaja, am Ende gewinnt immer das Gute.
Dunkle Königin: Ach, wie langweilig. (Urlacher 2013, 1/53:13)
Insofern steht das Hörspiel auch in der Tradition der unzähligen Ansätze zur Verarbeitung von Märchenmotiven und der Verbindung von Märchenelementen mit der menschlichen Alltagswelt bzw. deren Parodien, die sich in verschiedensten medialen Formen finden lassen: Von The Princess Bride über die Shrek-Filme hin zur ProSieben Märchenstunde. So weist zum Beispiel der Ruf nach härteren Bestrafungen für die 'bösen' Märchenfiguren eine deutliche Parallele zu realexistierenden Strafrechtsdiskussionen auf: "Wahrscheinlich bieten Sie auch noch Töpfer- und Malkurse an – und Schokokuchen für die Seele" (Urlacher 2013, 1/05:55).
Mit dem Übergang von der Welt der Märchen in die menschliche Welt kommt das 'Fish out of water'-Moment dazu, das viele der humorigen Momente dominiert, was sich in der Verwunderung und Begeisterung über Alltagselemente wie Fernseher oder Lieferdienste zeigt, vor allem der Wolf entdeckt rasch seine Liebe zu Pommes mit Ketchup. Mischa und Linus gegenüber präsentieren sich die drei Märchenfiguren zunächst als Frau König, Herr Stilzchen sowie deren Hund Wolfgang, Besucher aus einem fernen Land. Ihr eigentliches Naturell kommt allerdings immer wieder zum Vorschein, der Wolf hat Probleme damit, nicht sprechen zu dürfen, und die dunkle Königin fragt sich besorgt, ob sie auch in dieser Welt die 'Schönste im ganzen Land' ist.
Wirklich 'böse' sind die drei jedoch zu keinem Zeitpunkt, jedenfalls nicht ihren beiden menschlichen Freunden gegenüber. Sie sind in Mischas Konflikt mit seinem Stiefvater und -bruder von Anfang an auf dessen Seite, der Wolf und Rumpelstilzchen bemühen sich, Linus' Selbstvertrauen zu stärken, darüber hinaus hilft Rumpelstilzchen ihm, indem er ein Power Ranger-Kostüm schneidert und ihm das Tanzen beibringt. Beide raten Linus davon ab, die anderen "das Fürchten lehren" zu wollen, indem sie auf ihre eigenen Erfahrungen zurückgreifen:
Rumpelstilzchen: Nein, das bringt nichts. Das macht nur einsam.
Wolf: Ja, ganz einsam, dann will niemand mehr mit dir spielen. (Urlacher 2013, 1/33:40)
Ähnlich argumentiert die dunkle Königin wenig später Mischa gegenüber: "Wut ist nie ein guter Ratgeber, das kann ich Ihnen versichern" (Urlacher 2013, 2/01:52). Bei alldem haben die drei jedoch auch eine ganz eigene Vorstellung davon, wie sie in ihre Rollen als 'böse' Märchenfiguren hineingeraten sind. Der Wolf behauptet schon während einer Gruppentherapiesitzung mit Frau Holle, in seiner Familie habe man "schon immer Großmütter gefressen, das ist Tradition" (Urlacher 2013, 1/11:18). Den Verzehr Rotkäppchens rechtfertigt er später damit, er habe sie schlichtweg mit ihrer Großmutter verwechselt. Darüber hinaus liefert die dunkle Königin aus gendertheoretischer Perspektive eine interessante Analyse ihrer Rolle, freilich nicht ohne direkt im Anschluss daran ihre alte Kontrahentin Schneewittchen anzugreifen:
Ich hatte schon immer wahnsinnige Angst […] davor, abhängig zu sein. Wollte ums Verrecken nicht Bitte und Danke sagen müssen bei irgendeiner Hohlbirne von Prinz – kleinkarierte Egomanen, allesamt! Ewig sitzen da diese Knöselhuber, es regieren immer Männer! Und wenn in unserem Land mal 'ne selbstbewusste Frau daherkommt, heißt es gleich, sie wär' zickig und hinterhältig. Ich möchte ja auch gerne gemocht werden, wer will das nicht? Aber lieber bin ich die Zicke vom Dienst als von irgendeinem Waschlappen abhängig zu sein. […] Und um starke und selbstbewusste Frauen mies zu machen, erfinden Männer – also so Geschichtenschreiber – dann Märchen über angeblich böse Frauen. Märchen die einfach nicht stimmen! (Urlacher 2013, 2/39:28)
Bei dem Spiel mit Märchenkonventionen wird letztlich auf die des Sich-Verliebens nicht verzichtet, auch wenn die dunkle Königin aufgrund ihres Standesdünkels zunächst an ihren Gefühlen Mischa gegenüber zweifelt:
Ich werd' mich doch nicht in diesen armen Schlucker ... mit den ach so verwegenen Locken … Passt doch gar nicht zu mir, das ist ja nun wirklich albern! Albern, wie in so einem dämlichen Prinzessinnenmärchen! Ach, jetzt fang' ich vielleicht gleich noch an zu singen … Nein! Schluss, aus, weg mit den Streichern! (Urlacher 2013, 2/06:00)
Hier ist zum einen ein Spiel mit den typischen medialen Inszenierungen von Märchen auszumachen, der musikalische Einsatz erinnert an die Filmmusik einschlägiger Disney-Märchenfilme, zum anderen ist der Ausruf, die im Hintergrund zu vernehmenden Streicherklänge zu beenden, ein Hinweis darauf, dass sich die Figuren selbst der (genretypischen) Inszenierung bewusst sind.
Die Liebesgeschichte von der dunklen Königin und Mischa findet selbstredend ein gutes Ende – es muss ein 'glücklich bis an ihr Lebensende' geben, auch unter der Mithilfe ihrer Freunde und Frau Holles, die zunehmend eine aktivere Rolle einnimmt, es ist jedoch bemerkenswert, dass dieses Ende durch die die Umkehr der Genderrollen – Mischa als männliches Aschenputtel – zustande kommt.
Max Urlacher hat inzwischen mehrere Kinderhörspiele veröffentlicht, teilweise mit Angela Lucke als Co-Autorin, die für den Kinderradiokanal (KiRaKa) vom WDR produziert wurden. Märchentherapie stellt den Zweitling dar, der – zurecht – den Deutschen Kinderhörspielpreis 2013 erhielt, was natürlich auch der Inszenierung durch die Regisseurin Angeli Backhausen (Krabat, WDR 2010 u.a.) und den Leistungen der Sprecher_innen, vor allem in den Hauptrollen, geschuldet ist: Kathrin Angerers dunkle Königin ist immer etwas sarkastisch und nie um einen Spruch verlegen. Jens Wawrczecks (Die drei ??? u.a.) einerseits von unkontrollierten Wutausbrüchen geplagtes Rumpelstilzchen besitzt andererseits große Einfühlsamkeit und Herzenswärme. Selbiges kann auch über den leicht sächselnden Tonfall, den Arved Birnbaum als böser Wolf anschlägt, konstatiert werden, der gleichzeitig 'wölfisch' und unschuldig-naiv daherkommt.
Musik bildet einen weiteren Qualitätsfaktor des Hörspiels, der keinesfalls unerwähnt bleiben sollte: Sowohl die klassisch-orchestrale Kompositionen von Rainer Quade (Krabat, WDR 2010 u.a.) als auch die in den entsprechenden Szenen verwendete Karnevalsmusik fügt sich stimmig ins Gesamtbild ein. Heraus sticht allenfalls der Einsatz einer eingedeutschten Coverversion des Black Eyed Peas-Songs I Gotta Feeling, hier abgewandelt in Ich hab' ein Feeling, dass morgen ein super Tag wird. Ob dies wirklich nötig war, sei dahingestellt, dem Hörerleben tut es jedenfalls keinen Abbruch.
Fazit
Märchentherapie lädt kindliche, aber auch erwachsene Hörerinnen und Hörer gleichermaßen dazu ein, auf unterhaltsame und humorvolle Art und Weise das eigene Märchenbild kritisch zu hinterfragen, ohne dabei allzu belehrend daherzukommen: Kann nicht gerade die Rolle der bösen Märchenfiguren einmal anders 'gedacht' werden? Wie würden sich die bösen Figuren unter anderen Bedingungen verhalten? Die Komik des Hörspiels ist somit auch ein Resultat der Infragestellung jener 'klassischen' Rollenerwartungen an böse Märchenfiguren. Diese Komik wird durch die 'Fish out of water'-Aspekte, das Zurechtfinden der Figuren in der für sie fremden Menschenwelt, und nicht zuletzt auch durch selbstreferenzielle und popkulturelle Bezüge zusätzlich verstärkt. Der Qualität dieser inhaltlichen Dimensionen stehen die Inszenierung, die Leistung der Sprecherinnen und Sprecher sowie der atmosphärische Einsatz der Musik in nichts nach. Die Altersempfehlung des WDR, ab 8 Jahren, ist als durchaus angemessen zu betrachten, auch im Hinblick darauf, dass jüngere Kinder möglicherweise hinsichtlich des Humors auf Verständnisschwierigkeiten stoßen könnten, wenn die entsprechenden Referenzen, in Märchen und Popkultur, ihnen noch nicht geläufig sind.
Pressemitteilung
https://www.filmstiftung.de/news/khp2013/
- Name: Angeli Backhausen
- Name: Max Urlacher
- Name: Angela Lucke