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Ganz schön genervt ist der 10-jährige Internatsschüler Jannis von der neuesten Erfindung seiner Eltern, für die er als Versuchskaninchen herhalten muss: Eine Nanny-App, die ihn ständig überwacht, sich in alles einmischt und gut gemeinte Ratschläge erteilt. Doch nach einer Weile stellt Jannis fest, dass die Nanny-App eine Fehlfunktion hat: Er kann alle Nachrichten, die in seiner Umgebung empfangen werden, auch auf seinem Handy lesen! Eigentlich ja ganz praktisch, denkt sich Jannis, kann er so doch geheime Dinge über seine Mitschülerinnen und Mitschüler erfahren. Mit der Zeit aber erkennt er, dass es gar nicht so angenehm ist, so viel über andere zu wissen – und dann erscheint auch noch die Nachricht eines geplanten Ladendiebstahls auf seinem Handy…

Statt Eltern eine App zu haben, ist für viele Jugendliche vermutlich zunächst eine verlockende Vorstellung. Wie es sich aber tatsächlich anfühlt, durch eine Babysitter-App permanent kontrolliert und überwacht zu werden, muss Jannis am eigenen Leib erfahren. Egal ob Zähne putzen, Hände waschen oder Vitamin C-Bedarf – die Nanny-App weiß und kontrolliert alles. Dabei ist Jannis gleich doppelt bestraft, denn seine Eltern reisen als Softwareentwickler durch die Welt und benutzen ihren Sohn, um ihre neueste Erfindung zu testen, die aber noch absolut geheim bleiben muss. Lediglich der Schulleiter ist eingeweiht und ermahnt seinen Schüler doch tatsächlich – alle Lehrerinnen und Lehrer werden an dieser Stelle denken, sich verhört zu haben –, sein Handy bitte konsequent angeschaltet (!) zu lassen, um den Überwachungskanal nicht zu unterbrechen.

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Kritik

Die permanente Überwachung und Kontrolle durch die Nanny-App lässt Jannis zunehmend entnervt zurück, gleichzeitig ist er sozial isoliert und verliert sogar den Kontakt zu seinem besten Freund Moritz. Auch die Thematik von überwiegend abwesenden Eltern, die über die App zwar permanent präsent sind, aber trotzdem keine emotionale Bindung zu ihrem Sohn aufrechterhalten können, eröffnet Möglichkeiten der kritischen Diskussion. Die Botschaft an dieser Stelle ist deutlich. Ein Hörspiel des reinen pädagogischen Zeigefingers also?

Dem muss entschieden widersprochen werden, denn Gerrits beschränkt sich in der Nanny-App nicht lediglich darauf, die Auswirkungen der modernen Datentechnik zu präsentieren und zu kritisieren. Vielmehr erwächst daraus mit der Zeit eine spannende Geschichte. Als Jannis feststellt, dass er durch die App plötzlich Nachrichten auf seinem Handy erhält, die eigentlich für andere in seiner Nähe gedacht sind, wird es abenteuerlich. Ein Fehler im System, denkt sich Jannis. Ist die Nanny-App also in Wahrheit eine Hacker-Nanny? Ziemlich cool findet Jannis das zunächst, kann er so doch alles mitlesen, was seine Mitschülerinnen und Mitschüler so schreiben. Auf diese Weise erfährt er beispielsweise, dass sein Mitschüler Bruno von seiner Tante Evi liebevoll "Bruno-Bärchen" genannt wird. Dass es jedoch manchmal ganz schön unangenehm ist, alles zu wissen, muss er schließlich am eigenen Leib erfahren, als seine Mitschülerinnen und Mitschüler hinter seinem Rücken über ihn herziehen. Ob und wie diese Fehlfunktion Jannis im Laufe der Geschichte jedoch sogar nützlich wird, soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

Mitverantwortlich für dieses spannende Hörspiel sind vor allem die Sprecherinnen und Sprecher, die die unterschiedlichen Sphären zwischen digitaler Welt und Internatsalltag kontrastreich darstellen: Die Nanny-App, die von Andrea Dewell gesprochen wird und deren Stimme gekonnt maschinell bearbeitet erklingt, spricht mit einer emotionslosen, aber immer gut gelaunten Computerstimme und akzentuiert so die Welt der Kontrolle und Überwachung, die Jannis' Leben vom Aufstehen bis zum Schlafengehen begleitet. Außerdem erklingt jedes Mal, wenn sich die Nanny-App meldet, ein typisch handyähnliches "pling". Demgegenüber steht Jakob Rodens facettenreiche sprecherische Leistung als Jannis, der mal als Ich-Erzähler agiert, mal einen genervten und verletzten Internatsschüler darstellt und gekonnt die verschiedensten Emotionen transportiert. Hierbei merkt man deutlich die sprecherische Erfahrung, die er unter anderem als Frieder in Gudrun Mebs' "Super!, schreit der Frieder, und die Oma kichert wieder" und den kleinen Wal Waldo in Megumi Iwasas "Viele Grüße vom Kap der Wale" sammeln konnte. Auch Jannis' Mitschülerinnen und Mitschüler – interpretiert von Elias Huber (Moritz), Lou Tillmanns (Hanna) und Ben Koch (Bruno) – beeindrucken in ihren Rollen und machen das talentierte Nachwuchsquartett komplett. Darüber hinaus sind die Nebenrollen mit beispielsweise Bjarne Mädel als Hauptkommissar Schlüter prominent (und übrigens sehr unterhaltsam) besetzt.

Maßlose Übertreibung, Unglaubwürdigkeit und lediglich Science-Fiction für Grundschulkinder könnten Kritikerinnen und Kritiker Angela Gerrits' Hörspiel an dieser Stelle vorwerfen. Dass die in der Nanny-App angesprochene Thematik aber präsenter denn je ist, offenbart die Recherche nach tatsächlichen Apps, mit denen Eltern ihre Kinder überwachen können: "Der einfachste Weg, ihre Kinder online zu kontrollieren – im Angebot: Ortung, Überwachung sozialer Netzwerke, Sperren unerwünschter Kontakte" – mit diesem Angebot wirbt etwa der US-Anbieter 'Qustodio' unverblümt. Außerdem sorge der "Unsichtbar-Modus" dafür, dass die Kinder die digitale Überwachung durch die Eltern gar nicht erst mitbekommen würden (vgl. Tobien 2015). Ähnliche Angebote gibt es bei den Apps iNanny, Pocket Nanny oder Family Tracker (vgl. WDR 2018). Und die Zahlen, über die der Download-Verlauf der Apps Auskunft gibt, machen deutlich: Solche Apps werden tatsächlich von einer breiten Masse genutzt und nicht lediglich von einer kleinen Zahl überbesorgter Eltern. Fast könnte man an dieser Stelle meinen, die 'Helikopter-Eltern' werden momentan von einer Generation von 'Drohnen-Eltern' abgelöst, die ihre Kinder einer ständigen Kontrolle unterziehen und sie in einer Atmosphäre der Angst aufwachsen lassen. Dass damit gegen sämtliche Daten- sowie Persönlichkeitsrechte der Kinder verstoßen wird, scheint den meisten Eltern nicht bewusst zu sein (vgl. WDR 2018). 

Die Nanny-App ist also aktueller denn je, auch die Jurybegründung für den deutschen Kinderhörspielpreis 2017 betont:

Angela Gerrits hat ein absolut zeitgemäßes Kinderhörspiel geschrieben, nicht nur, weil sie sich mit den Auswirkungen von Internet und moderner Datentechnik überhaupt auf unseren Alltag auseinandersetzt – und zwar ironisch, aber ohne jede Larmoyanz. Auch mit Jannis' vom Erfolgsdruck getriebener Kleinfamilie, mit den Fraktionsbildungen im Internat und mit Jannis' Glauben an echte Freundschaft schildert sie Episoden heutigen Heranwachsens.

Nichtsdestotrotz übersteigert Gerrits an vielen Stellen: Ein Schulleiter, der die App-Testphase unterstützt, erscheint beispielsweise reichlich unwahrscheinlich, ebenso sind Jannis' Eltern mit ihren "Deals, Monster Calls und Instachats" (X/04:13) ziemlich überzeichnet. Auch die vielfältigen Funktionen der Nanny-App sind (hoffentlich) lediglich futuristische Imaginationen, bei denen zu hoffen bleibt, dass sich solch eine App nicht im echten Leben durchsetzen kann.

Gerade aber weil Gerrits an einigen Stellen allzu sehr überzeichnet, bekommt Die Nanny-App erst die thematische Brisanz, die Hörerinnen und Hörer nachdenklich stimmt. Zwangsläufig stehen so zukunftsbedeutende Fragen der digitalen Überwachung und die Auswirkungen der modernen Datentechnik im Mittelpunkt. Ebenso stellt Gerrits' Hörspiel die Mentalität der 'Helikopter-Eltern' zur Diskussion.

Fazit

Angela Gerrits präsentiert in Die Nanny-App ein Thema, das bislang kaum aus kinder- und jugendspezifischer Sicht behandelt wurde – dabei ist es in Zeiten einer zunehmenden digitalen Überwachung und Digitalisierung aktueller denn je. Da die Generation der heutigen Kinder und Jugendlichen in ebendieser Welt aufwächst, ist es wichtig, diese Fragen nicht zu ignorieren, sondern einen angemessenen Umgang zu finden, was der Nanny-App erfolgreich gelingt.

Gerrits schafft es, die Auswirkungen von moderner Datentechnik kindgerecht aufzuarbeiten, ohne dabei allzu belehrend zu wirken. Gleichzeitig thematisiert sie jugendspezifische Probleme und Konflikte des Heranwachsens in der heutigen Zeit. Auf diese Weise entsteht ein spannendes Hörspiel, dass trotz der Künstlichkeit der Nanny-App nie an Natürlichkeit und Echtheit einbüßt. Hierfür ist Jakob Roden maßgeblich mitverantwortlich, der anhand seines sprecherischen Talents Jannis' Gefühlsleben für die Hörerinnen und Hörer direkt erfahrbar macht. Es bleibt abschließend zu hoffen, dass diese genauso wie Jannis selbst im Verlauf des Hörspiels erfahren, dass letztlich nur die wahre Freundschaft jenseits des digitalen Lebens zählt. Oder um es etwas salopper mit den Worten der Supermarktkassiererin zu sagen: "Und nicht immer nur aufs Handy starren, Junge, auch mal raus gehen, Fahrrad fahren, Fußball spielen!" (V/03:25). 

Literatur

Tobien, Jenny (2015): Kinder-Überwachung: Eltern setzen auf Tracking-Apps. https://www.heise.de/newsticker/meldung/Kinder-Ueberwachung-Eltern-setzen-auf-Tracking-Apps-2851823.html (04.11.18).

WDR (2018): Überwachungs-Apps für Kinder. https://www1.wdr.de/verbraucher/digital/kontroll-apps-eltern-kinder-100.html (04.11.2018).

 

 

Titel: Die Nanny-App
Regie:
  • Name: Hans-Helge Ott
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Angela Gerrits
Sprechende: Jakob Roden (Jannis), Andrea Dewell (Nanny-App), Elias Huber (Moritz), Lou Tillmanns (Hanna), Ben Koch (Bruno), Bjarne Mädel (Kommissar)
Produktion: Sauerländer Audio/hr/BR
Erscheinungsjahr: 2017
Dauer (Minuten): 43 Minuten
Preis: 9,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 8 Jahre
Gerrits, Angela: Die Nanny-App (Hörspiel)