Inhalt
Eigentlich könnten die Willoughbys eine ganz normale Familie sein, gäbe es da nicht ein kleines Problem: Die Eltern können ihre Kinder Timothy, Barnaby A, Barnaby B und Jane nun einmal leider überhaupt nicht ausstehen. Inspiriert vom Märchen Hänsel und Gretel beschließen sie daher eines Tages, dass es wohl das Beste wäre, wenn sie ihre Kinder einfach loswürden. Was die Eltern allerdings nicht wissen: Auch die vier Kinder sind ihrer Eltern überdrüssig und wünschen sich nichts sehnlicher als ein Leben ohne ihre Erziehungsberechtigten. Entsprechend groß ist die beiderseitige Freude, als die Eltern verkünden, eine gefährliche Abenteuerreise rund um den Globus antreten zu wollen. Allein sind die Kinder trotzdem nicht, denn am nächsten Tag steht ein Kindermädchen vor der Tür, welches sich im Auftrag der Eltern um die vier Geschwister kümmern soll. Obwohl diese zunächst skeptisch sind, stellen sie bald fest, dass ihnen nichts Besseres hätte passieren können.
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Kritik
Im Kinderhörbuch des Jahres 2019 – Die schreckliche Geschichte der abscheulichen Familie Willoughby von Lois Lowry – ist nichts so, wie man es erwartet: Vater und Mutter Willoughby können ihre vier Kinder nicht besonders gut leiden, und auch ein Findelkind behandeln sie richtig mies. Schon beginnt die schwarze Pädagogik der Eltern auf die Sprösslinge abzufärben. Doch dann entscheiden sich die Eltern, zu zweit eine gefährliche Reise anzutreten,
heißt es in der Pressemeldung des Hessischen Rundfunks. Und eins sei vorweg gesagt: Diese Auszeichnung ist mehr als verdient. Doch gerade deswegen muss man sich vielleicht ein wenig über die Begründung ärgern, geht aus ihr doch kaum hervor, welch gleichermaßen unterhaltsamen wie originellen Rahmen Lowry für ihre Erzählung geschaffen hat.
Da wären zunächst einmal die vier Kinder der Willoughbys: Der älteste, Timothy, steht zu Beginn der Erzählung ganz oben in der Geschwisterhierarchie, er ist der einzige, der Entscheidungen treffen und Regeln aufstellen darf. Tims Führungsstil lässt sich wohl am besten anhand eines Spiels erläutern, das die vier Geschwister jeden Tag auf der Treppe vor dem Hauseingang spielen und dessen Regeln er – wie sollte es auch anders sein – selbst bestimmt hat. Dabei sitzen alle vier zunächst auf derselben mittleren Treppenstufe, Tims Geschwister müssen jedoch für jeden Wortbeitrag eine Stufe nach unten rutschen, wohingegen er selbst für jede Aussage eine Stufe nach oben klettern darf. Wer am Ende des Spiels auf der obersten Treppenstufe sitzt, hat gewonnen.
Seine beiden Brüder, Barnaby und Barnaby, ihres Zeichens eineiige Zwillinge und nicht voneinander zu unterscheiden, teilen sich nicht nur den gleichen Vornamen, sondern auch ihren einzigen Pullover, da ihre Mutter im Laufe der Erzählung beschließt, lieber der Katze einen neuen Pullover zu stricken als ihren eigenen Kindern. Um die Zwillinge überhaupt irgendwie auseinanderhalten zu können, erhält der eine den Namen Barnaby A, während sein Bruder fortan Barnaby B genannt wird. Abgerundet wird das Quartett von der kleinen Jane, die es weder mit ihren Eltern noch mit ihren Brüdern sonderlich leicht hat. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sie ihren Brüdern intellektuell und emotional zwar deutlich überlegen ist, sich aber leider dennoch am unteren Ende der Familienhierarchie befindet.
Jane ist die einzige Figur, die zu Beginn der Geschichte in der Lage ist, auf der emotionalen Ebene zu agieren bzw. überhaupt Emotionen zu empfinden. Als die Familie beispielsweise überraschend ein kleines Baby vor ihrer Haustür vorfindet, sind sich eigentlich alle sehr schnell einig, dass das Baby "hässlich" sei und "entsorgt" gehöre (03/01:52). Nur Jane findet das Baby und seine lockigen Haare eigentlich "ganz süß" und würde es gerne behalten. Doch Janes Mutter weiß auch hier auf ihre ganz eigene Art und Weise Abhilfe zu schaffen und schneidet dem Baby kurzerhand die Haare ab. Wenig später wird es dann vor einer baufälligen Villa ausgesetzt. Jedoch nicht ohne vorher auf einem beigelegten Zettel zu vermerken, dass ein eventuell auf das Baby ausgesetzter Finderlohn selbstverständlich den Willoughbys zustünde. Es ist unter anderem diese fast schon schmerzhafte Konsequenz, mit der das Prinzip des schwarzen und grotesken Humors hier Anwendung findet und die Die schreckliche Geschichte der abscheulichen Familie Willoughby zu so einem großen Hörvergnügen macht.
Einen erheblichen Teil steuert dazu auch Sprecher Stefan Kurt bei, dem man anmerkt, dass er mit großer Freude zu Werke geht. Er schafft es mühelos, die Charaktereigenschaften der einzelnen Figuren zum Leben zu erwecken. Das beste Beispiel hierfür ist erneut die kleine Jane, die man auch dank Stefan Kurt direkt zu Beginn in sein Herz schließt und bei der man sofort begreift, dass sie ihren Brüdern eigentlich weit überlegen ist, obwohl sie sich jeden Tag aufs Neue sprichwörtlich auf der untersten (Treppen-)Stufe wiederfindet. Gerade ihre – im Rahmen der Erzählung einzigartige – Fähigkeit, Emotionen zu zeigen und diese in ihre Überlegungen einfließen zu lassen, macht sie zur stillen Heldin der Handlung. Kurt gelingt es vortrefflich, diese Diskrepanz zwischen ihr und ihren Brüdern herauszuarbeiten und mit Leben zu füllen. Besonders bemerkenswert ist es, dass man die Brüder dabei keineswegs unsympathisch findet. Ihr Handeln sorgt immer wieder für ausgiebiges Schmunzeln und während Jane für die herzerwärmenden Momente der Handlung zuständig ist, sorgen ihre Brüder dafür, dass das Prinzip des schwarzen Humors als roter Faden erhalten bleibt.
Die Eltern von Tim, Barnaby A, Barnaby B und Jane dagegen sind tatsächlich unsympathisch: der Vater ein geiziger Finanzhai und die Mutter eine emotionslose Hausfrau, die, wie im Laufe der Erzählung immer wieder erwähnt wird, ausnehmend schlecht kocht. Einig sind sie sich vor allem darin, dass sie ihre Kinder absolut nicht ausstehen können. So verwundert es wenig, dass sie eines Tages, inspiriert durch die Märchen der Brüder Grimm, beschließen, ihre Kinder loswerden zu wollen. Doch auch die Kinder kommen zu der Einsicht, dass sie ohne ihre Eltern deutlich besser dran wären, denn schließlich, so Tim, seien Kinder in altmodischen Geschichten immer Waisenkinder.
Anhand dieser Aussage des Ältesten lässt sich eine weitere äußerst unterhaltsame Besonderheit veranschaulichen: Als eine Art Nebenhandlung findet eine konsequente Kommunikation auf der Metaebene statt, die schließlich sogar für eine entscheidende Wendung der Haupthandlung verantwortlich ist. So wird gerade zu Beginn ziemlich unterhaltsam mit dem Klischee der "altmodischen Geschichte" gespielt, beispielsweise wenn die Kinder ihre Eltern bitten, ihnen eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, weil das in altmodischen Geschichten nun einmal so üblich sei, und der Vater daraufhin erwidert, das mache in diesen Geschichten allerdings stets die Mutter, er sei dafür also nicht zuständig. Im Laufe der Handlung finden sich viele dieser Metakommentare und Stefan Kurt trägt sie derart pointiert vor, dass man sich als Hörerin und Hörer das Lachen kaum verkneifen kann. Wirklich schön eingearbeitet sind auch die intertextuellen Verweise auf Werke der Kinder- oder Jugendliteratur: Huckleberry Finn, Mary Poppins, Anne auf Green Gables und sogar Heidi finden an unterschiedlichen Stellen meist auf humorvolle Weise Erwähnung.
Die Handlung gewinnt nochmals an Fahrt, als die Eltern dann tatsächlich zu einer Reise aufbrechen, stilecht gebucht bei der Gesellschaft für verantwortungsloses Reisen, die Kinder in der Obhut des Kindermädchens zurücklassen und das Haus bei einer Maklerin als Verkaufsobjekt annoncieren. Und während die Eltern hoffen, die Kinder auf diese Weise ein für alle Mal loszuwerden, sitzen diese zu Hause und sind jedes Mal wieder enttäuscht, sobald ihre Eltern in Form einer Postkarte Lebenszeichen von sich geben. In dieser Situation kommt das zuvor behutsam aufgebaute Szenario zu seiner vollen Entfaltung und kann dementsprechend seine ganze Stärke ausspielen. Stefan Kurt führt die Hörerinnen und Hörer gekonnt durch die fortwährenden Bemühungen beider Seiten, die jeweils andere niemals wiedersehen zu müssen.
Als echter Glücksfall – sowohl für die Kinder als auch für die Handlung – erweist sich dabei das Kindermädchen. Sobald sich dieses nämlich der Betreuung der Kinder annimmt, wird man Zeugin und Zeuge einer gleichermaßen positiven wie kontinuierlichen Charakterentwicklung der vier Geschwister, die wirksam verhindert, dass sich die groteske Szenerie und der stets präsente schwarzer Humor mit der Zeit abnutzen.
Sofern man das Haar in der Suppe suchen möchte, könnte man an dieser Stelle auf die Altersempfehlung des Verlags abheben. Diese gibt an, dass das (Hör-)Buch für Kinder ab 8 Jahren geeignet sei. Man kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass Die schreckliche Geschichte der abscheulichen Familie Willoughby manchmal eher ein Kinderbuch für Erwachsene ist. Gerade die Metakommentare über den immer gleichen Ablauf altmodischer Geschichten, die teilweise wundervoll absurden Auswüchse des schwarzen Humors oder die intertextuellen Verweise auf andere Jugendbuchklassiker versteht man vermutlich umso besser, je mehr Erfahrungen man in diesen Bereichen bereits gesammelt hat.
Fazit
Die schreckliche Geschichte der abscheulichen Familie Willoughby erzählt mit viel Humor eine äußerst kurzweilige Geschichte von vier Kindern, die ihre Eltern loswerden wollen, während ebendiese genau die gleiche Absicht im Hinblick auf ihre Kinder verfolgen. Sprecher Stefan Kurt gelingt es hervorragend, den einzelnen Charakteren eine markante Stimme zu verleihen, wobei man besonders die kleine Jane hervorheben muss. Die Geschichte glänzt mit einem zuweilen tiefschwarzen Humor, äußerst treffsicheren Metakommentaren zu den Eigenheiten des hier bespielten Genres sowie einer Handlung, die tatsächlich zu keiner Zeit Gefahr läuft, Langeweile aufkommen zu lassen.
- Name: Lois Lowry