Inhalt

Das fünfjährige Waisenkind Heidi wird von seiner Tante Dete auf die Alm zum kauzigen Alpöhi gebracht: Der Großvater des Mädchens soll sich nun um sie kümmern, da die Tante einer lukrativen Anstellung wegen nach Frankfurt zieht. Der Alpöhi zeigt sich zunächst wenig begeistert, wird aber vom liebevollen kindlichen Wesen Heidis schnell eingenommen. Innerhalb kürzester Zeit lebt sie sich auf der Alm und im Dörfli gut ein, findet Freunde wie den Geißenpeter und dessen blinde Großmutter und geht mit einem positiven und freudvollen Blick durch diese – für sie – heile Welt.

Das unbeschwerte Bergleben wird aber jäh beendet, als Dete Heidi völlig überraschend nach Frankfurt holt. Dort soll Heidi für Clara, die Tochter des wohlhabenden Herrn Sesemann, eine Gefährtin werden, da diese keine Geschwister und keine Mutter mehr hat und so schwach ist, dass sie im Rollstuhl sitzt. Aber auch in dieser städtischen Umgebung, die einen starken Kontrast zum Leben auf der Alp darstellt, weiß Heidi alle mit ihrem kindlichen Charme in den Bann zu ziehen. Nur das strenge Kindermädchen Fräulein Rottenmeier – ihr gehen Normen und gesellschaftliche Regeln über alles – bleibt kalt und unerbittlich.

Heidi vermisst die Berge im Laufe der Zeit aber so sehr, dass der Arzt Herrn Sesemann rät, das Mädchen zurückzuschicken. Wie glücklich ist Heidi nun wieder beim Alpöhi. Sie bekommt auch Besuch aus Frankfurt: Zunächst vom Arzt und später von Clara und deren Großmutter. In dieser schönen Bergwelt geschieht dann auch ein Wunder: Clara lernt das Laufen wieder. Finanziell wird Heidi von nun an von Familie Sesemann unterstützt, sodass sie im Dörfli mit ihren Freunden ein unbeschwertes Leben führen kann.

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Kritik

Heidi wurde schon vielfach nacherzählt und verfilmt. Seit der japanischen Zeichentrickserie unter der Regie von Isao Takahata aus den 1970er Jahren hat sich eine wahre Heidi-Industrie formiert: Heidi lässt sich auf Tassen, Kleidungsstücken, Taschen usw. käuflich erwerben und in diversen Freizeitparks können Familien die Figur sogar besuchen.

Die Nacherzählung von Marianne Loibl bleibt nahe an Spyris Text. Der Alpöhi wirkt insgesamt eher sanft, weniger "kantig". Das liegt zum einen an Hogers durchgehend nur leicht akzentuierter Figurenrede, zum anderen an bekannten medialen Adaptionen wie dem Film aus dem Jahre 2015 mit Bruno Ganz als Alpöhi, in dem die erste Begegnung zwischen Heidi und dem Großvater ungleich dramatischer verläuft (Pretzel 2017, S. 123). Wie in der literarischen Vorlage bringt das Mädchen den Großvater auch rasch dazu, wieder den Gottesdienst zu besuchen. Spyris große religiöse Affinität findet sich in der Figur Heidi deutlich wieder, auch in diesem Hörbuch.

Dass Hannelore Hoger das Hörbuch liest, ist naheliegend: zum einen wegen ihrer markanten Stimme, die ein mögliches Abrutschen ins Kitschige eigentlich per se verhindert, zum anderen aufgrund der Tatsache, dass Hoger in der filmischen Adaption aus dem Jahre 2015 bereits die Großmutter verkörpert hat. Mit nur leichten Veränderungen in der Altstimme schafft Hoger eine nachvollziehbare und stringente Figurenrede. Heidi wird in etwas höherer Tonlage und fröhlicher Grundstimmung gesprochen, der Großvater klingt tiefer und redet etwas langsamer. Insgesamt hebt sich die Erzählstimme nur wenig zu den Figuren ab. Das Nasale in Hogers Stimme führt manchmal zu einer verwaschenen Rede. Beides könnte bei jüngeren oder weniger literaturaffinen Kindern zu Verständnisproblemen führen.

Da Marianne Loibls Nacherzählung eng an Spyris Vorlage bleibt, kommen Heidi-Fans sicher ganz auf ihre Kosten. Gerade in Zeiten von Pandemien, Terroranschlägen und Klimawandel scheint Spyris Text eine große Sehnsucht – "Zurück zur Natur" – der heutigen Leserschafft zu stillen. So gesehen ist der Heidi-Stoff höchst aktuell. Doch gerade bei der Darstellung von Claras Behinderung und deren wundersamer Heilung muss man den Text in seinen historischen Kontext stellen. Der Untertitel Lehr- und Wanderjahre verweist auf Goethes Wilhlem Meister und verdeutlicht Spyris Intention, Heidi als Entwicklungsroman anzulegen, in dem sich viele Figuren verändern: der menschenscheue und vom Glauben abgekommene Alphöhi zum Menschen- und Gottesfreund, Clara vom blassen Mädchen zum fröhlichen pausbäckigen Teenager. Ob sich die Hauptfigur aber tatsächlich entfalten kann, wird auch kritisch betrachtet (vgl. Hurrelmann 1995, S. 200).

Um die Entwicklung Claras positiv vollenden zu können, ist ein Wunder nötig. 1880 wurde Behinderung durch das medizinische Modell definiert und meist mit Krankheit gleichgesetzt: Ein Modell, das in der Überwindung der Behinderung quasi die einzige Möglichkeit für ein erfülltes Leben sieht. Mit dem heute vorherrschenden sozialen Modell, das Behinderung vor allem als ein von der Gesellschaft gebildetes Konstrukt wahrnimmt, lässt sich Claras Heilung nicht mehr vereinbaren. Darüber sollte mit Kindern gesprochen werden.

Fazit

Ein unaufgeregtes Hörbuch in einer aufgeregten Zeit. Ganz ohne Musik und technische Raffinessen schafft es Hannelore Hoger allein mit ihrer markanten Stimme, das heutige Publikum einmal mehr in Heidis Welt zu ziehen. Hogers Lesen zeigt sich dabei nur wenig facettenreich, was aber auch eine Qualität darstellen kann. Die Gestaltung des Hörbuchs wirkt dadurch insgesamt sehr stimmig. Die Nacherzählung bleibt – von notwendigen Kürzungen abgesehen – nah am Original, das sich durch zeitlose Motive wie Freundschaft, Heimat und Naturverbundenheit auszeichnet. Dass der Text in anderen Bereichen – hervorgehoben wurde in der Rezension das Thema Behinderung – literaturgeschichtlich gelesen werden sollte, muss nicht unbedingt ein Nachteil sein. Im Gegenteil: Gerade diese Tatsache kann literarisches Lernen fördern.

Literatur

  • Hurrelmann, Bettina: Mignons erlöste Schwester. Johanna Spyris Heidi. In: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Hg. v. ders. Fischer: Frankfurt/Main, 1995. S. 191-215.
  • Pretzl, Christine: "Es trank das goldene Sonnenlicht." Sprachliche Adaptionen von Johanna Spyris Heidi im digitalen Zeitalter. In: Kindermedienwelten. Hören – Sehen – Erzählen – Erleben. Hg. v. Kurt Franz, Gabriele von Glasenapp und Claudia Maria Pecher. Schneider: Baltmannsweiler, 2017. S. 117-140.


Titel: Heidi. Lehr- und Wanderjahre. Heidi kann brauchen, was es gelernt hat
Regie:
  • Name: Wolfgang Stockmann
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Johanna Spyri
  • Name: Marianne Loibl
Sprechende: Hannelore Hoger
Produktion: Der Audio-Verlag
Erscheinungsjahr: 2015
Dauer (Minuten): 163 Minuten
Preis: 12,99 €
Altersempfehlung Redaktion: 6 Jahre
Spyri, Johanna: Heidi (Hörbuch)