Inhalt

Erst vor kurzem ist Hieronymus, genannt Ronny, von Einbeck nach Tübingen gezogen. So wie in der neuen Stadt muss er sich auch an der neuen Schule erst zurechtfinden. Vor allem sucht er aber eins: neue Freunde. Diese Suche gestaltet sich jedoch schwieriger als gedacht, da sich seine Mitschüler und Mitschülerinnen am ersten Schultag nur wenig für ihn interessieren. Auf dem Weg nach Hause läuft er an einem Antiquariat vorbei und entdeckt ein Buch namens Die Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, verfasst von Gottfried August Bürger. Es erscheint ihm so geheimnisvoll, dass er es, mehr oder weniger aus Versehen, stiehlt und sofort zu lesen beginnt. Die spannenden und aufregenden Geschichten, von denen er liest, erzählt er von nun an tagtäglich den Kindern in seiner Klasse. Allerdings mit einem Unterschied: Er gibt vor, dass all diese Abenteuer sein Opa erlebt hätte. Die Wahrheit, woher seine Erzählungen wirklich stammen, enthält er seinen neu gewonnenen Freunden vor. Nur Tessa bleibt misstrauisch, beginnt nachzuforschen und deckt Ronnys Geheimnis vor allen anderen auf. Beschämt und enttäuscht steht Ronny nun erneut vor der Frage, ob ein Schulwechsel nicht die bessere Wahl wäre. Wie wird sich Ronny wohl entscheiden? Halten seine Freunde dennoch zu ihm?

Kritik

In Herr der Lügen muss Ronny die Erfahrung machen, dass es ihm nur kurzfristig hilft, Lügengeschichten zu verbreiten – und dass alle Lügen irgendwann auffliegen. Die Besonderheit des Hörspiels liegt aber nicht im moralischen Appell, sondern im Spiel mit der literarischen Vorlage, den Lügengeschichten Münchhausens. Neben den intertextuellen Verweisen wird jedoch auch über das Lügen insgesamt nachgedacht. Thilo Reffert beschränkt sich im Hörspiel nicht nur auf die negativen Folgen, sondern klärt auch über Wahrheit und Unaufrichtigkeit auf. Zudem lenkt er den Blick auf moderne Medien, die heute dazu beitragen, dass nichts geheim und unaufgeklärt bleibt. Aus dieser Thematik heraus wächst eine spannende neue Geschichte, die viele bereits bekannte Geschichten beinhaltet.

Der Effekt dieser Produktion entsteht nicht zuletzt durch die Sprecherinnen und Sprecher sowie den Einsatz von Geräuschen und Musik. Ronny, gesprochen von Jeremias Matschke, ist Erzähler des Hörspiels und gleichzeitig die Hauptfigur, dabei lässt sich seine jeweilige Funktion jeweils klar verorten. An den Stimmen der handelnden Figuren lassen sich aber auch Charakter und Stimmung ablesen: Beispielsweise ist die Stimme von Ronnys Mutter vorwiegend warm und sehr weich, sie ist eine liebevolle Mutter. Ihre Stimmlage verändert sich jedoch, wenn Ronny die Schule schwänzt. Dann reagiert sie gereizt und genervt und ihre Stimme wird lauter und höher. Durch das Spiel der Sprecherinnen und Sprecher mit den unterschiedlichen Tonlagen und verschiedenen Sprechgeschwindigkeiten gewinnt das Hörspiel an Lebendigkeit.

Wer einmal lügt, verstrickt sich meist in ein großes Netz aus vielen Lügen. Die Unwahrheiten verschmelzen immer mehr mit der Realität, so dass beides kaum noch auseinanderzuhalten ist. Im Hörspiel werden Ronnys Erzählungen so lebendig, dass sich aus den Schilderungen die jeweilige Szene entwickelt und man Ronny in seiner Geschichte, aber zusätzlich auch die Stimme des vermeintlichen Großvaters hört. Und Ronny selbst ist von Münchhausens Erzählungen so begeistert und taucht so vollkommen in die Geschichte ein, dass der Baron für ihn ganz und gar lebendig wird – auch wenn er noch Schwierigkeiten mit der Frakturschrift des geklauten Buches hat und zunächst von Münchhaufen spricht:

Ronny: Dann konnte ich endlich in mein Zimmer, zu meinem Buch. Und ich kam zu einer Geschichte, die musste ich zweimal lesen. Münchhaufen war an der Belagerung einer Festung beteiligt. Sie sollte ausgekundschaftet werden. Mein Opa meldete sich freiwillig. Er setzte sich …

Baron: Genau! ... auf die größte Kanone, die zu finden war. Und auf mein Kommando wurde die Kanone abgefeuert. Und genau indem ich 'Feuer!' rufe, lasse ich mich fallen und komme so auf der Kanonenkugel zu sitzen, just in dem Moment, da sie losfliegt.

Ronny: Du fliegst auf einer Kanonenkugel?!

Baron: Jahaha, aber sowas von! Aber wie ich auf die Festung zufliege, packen mich Zweifel. Man wird mich in meiner Uniform als Spion erkennen und hängen! Was tun? Da sehe ich, von vorn, aus der belagerten Festung fliegt eine gegnerische Kanonenkugel auf mich zu und ich ergreife die Gelegenheit, springe ab und … (25:17)

Plötzlich ist Ronny also Teil seiner eigenen Erzählung und unterhält sich mit Münchhausen über dessen Lügengeschichten; sie reden und diskutieren miteinander und verändern schließlich sogar den Inhalt:

Ronny: Moment, du fliegt zurück?

Baron: Ja. Ich muss ja überleben, um davon zu erzählen!

Ronny: Aber die Festung muss doch noch ausgekundschaftet werden!

Baron: Oh, also du meinst, ich sollte die Geschichte … ändern?

Ronny: Naja, ich weiß, im Buch steht es so. Aber wenn wir uns schon so gut kennen... (26:25)

Die Umgebung, in welcher Ronny und seine Freunde sich befinden, oder die, in welcher die Lügengeschichten spielen, werden ausführlich durch Schilderungen von Ronny, aber zu einem großen Teil auch durch die Geräusche bebildert, hinzu kommt die musikalische Ebene: Michael Rodach führt immer wieder passende Töne und Geräusche ein, die Ronnys Geschichten lebendig werden lassen. Während der Geschichte im Wirtshaus, als der Hund die Katze frisst, erklingen beispielsweise folgende Geräusche: Hundeknurren, verzerrte Töne eines Zupfinstruments, ein Türöffnen und Stimmengewirr, das Miauen einer Katze, ein Klavier, ein Akkordeon und vieles mehr. Die Instrumente stellen dabei die Handlungen der Erzählung musikalisch dar. An einer Stelle symbolisiert das Klavier beispielsweise den Sprung des Hundes. Die Musik, welche zum Wechsel der Szenen gespielt wird, greift passend die Thematik der vorherigen Szene auf, hier kann als Beispiel die Sequenz genannt werden, in der Ronny mit seinen Eltern darüber spricht, ob er adliger Abstammung sei – im Anschluss daran erklingt Cembalomusik.

Inhaltlich steigt das Hörspiel am Ende der eigentlichen Handlung ein und wird durch Spulgeräusche (rewind) zurück auf den Anfang gebracht. So beginnt die Geschichte mit Ronny, welcher vor dem Büro der Schulleitung sitzt, in welchem sich seine Mutter und die Schulleiterin unterhalten. Während Ronny dort wartet, beginnt er zu erzählen, wie es dazu gekommen ist.

Fazit

Thilo Reffert präsentiert in Herr der Lügen – ähnlich wie in Faustinchen oder seinem Pinocchio-Hörspiel – einen bekannten literarischen Stoff in einem ganz neuen Gewand. Die bekannten Lügengeschichten Münchhausens, die von Rudolf Erich Raspe und Gottfried August Bürger, aber auch von Erich Kästner und anderen erzählt und immer wieder in Film und Hörspiel adaptiert worden sind, werden hier mit Kreativität, Witz und Spannung neu bearbeitet. Dabei zeigt Reffert auf unterhaltsame Art und Weise, was Lügen bedeutet und welche Folgen es haben kann. Gleichzeitig wird die Botschaft transportiert, dass es wichtig ist, der "Herr" seiner Lügen zu bleiben, sodass diese nicht aus dem Ruder laufen – ähnlich wie bei Münchhausen. Durch die Vermischung der Erzählungen von Ronnys erster Schulwoche und den Lügenschichten Münchhausens ist das Hörspiel zwar komplex, für Kinder ab sieben Jahren sollte die Handlung trotzdem bereits nachvollziehbar sein.

 

Titel: Herr der Lügen. Eine übertrieben wahre Lügengeschichte (Hörspiel)
Regie:
  • Name: Cordula Dickmeiß
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Thilo Reffert
Sprechende: Jeremias Matschke, Lasse Pantel, Antonia Zschiedrich, Toni Lorentz, Felix von Manteuffel, Anna Grisebach, Markus Gerken, Axel Wandtke u.a.
Produktion: Deutschlandradio
Erscheinungsjahr: 2020 (Ursendung 2021)
Dauer (Minuten): 46 Minuten
Altersempfehlung Redaktion: 7 Jahre
Reffert, Thilo: Herr der Lügen. Eine übertrieben wahre Lügengeschichte (Hörspiel)