Inhalt
Die neunjährige Stella besitzt ein ganz besonderes Kleid, eines mit Sternen und Schneeflocken auf blauem Stoff. Ein Kleid mit einer langen und spannenden Vergangenheit. Die bestickte Seide, aus der es gemacht wurde, ist ein altes Erbstück ihrer Ururgroßmutter, die Russland kurze Zeit nach dem Sturz der Zarenfamilie verlassen hat. Durch Stellas Nachlässigkeit wird der Stoff schwer beschädigt, doch sie will ihn nicht aufgeben und bittet ihre Großmutter um Hilfe. Diese erzählt ihr darauf in mehreren Episoden die aufregenden Geschichten, die der Stoff bereits durchgemacht hat und die durch diesen wie durch einen roten – oder hier passender: einen goldenen – Faden verknüpft werden. Das Erbstück verließ Russland nach Berlin, von dort mussten Stellas Vorfahren wiederum in der Zeit der Nationalsozialismus nach New York fliehen. Nach einiger Zeit wurde der Neuanfang in Berlin gewagt, im Gepäck der Stoff, der bis dahin bereits einiges erlebt hatte.
Kritik
Das Hörspiel entstand 2019 unter der Regie von Leonhard Koppelmann, während Holly-Jane Rahlens, die Autorin der gleichnamigen Erzählung, den Stoff selbst für die akustische Umsetzung bearbeitet hat. Infolgedessen wurde aus der Geschichte, in der man Stella mit ihrem blauen Stoff von der frühsten Kindheit über einige Jahre begleitet, ein Abriss über wenige Wochen, in denen Stella den Stoff Stück für Stück dezimiert. Zunächst gewandet der Stoff das Mädchen als Kleid, doch durch ihre Nachlässigkeit wird dieses ruiniert und bekommt ein neues Leben als Weste, bis auch diese nach kurzer Zeit wieder zerstört wird. Dennoch erklärt sich ihre Großmutter immer wieder bereit, dem Stoff eine neue Form zu verleihen.
So oder so funktioniert die bearbeitete Geschichte auch in dieser kürzeren Zeitspanne wunderbar, obwohl man sich vielleicht fragt, wie es Stella immer wieder gelingt in ein paar Wochen ein uraltes und von ihr geliebtes Erbstück so sehr zu vernachlässigen, ohne daraus zu lernen. "Aber sowas passiert eben, wenn man einem Kind ein Erbstück aus Seidensatin schenkt" (00:05:59), sagt Stellas Mutter, wenn sie wiederholt einlenkt, den Stoff loszuwerden, gegen den sie eine zunächst irrational erscheinende Ablehnung hegt.
Die Ereignisse der Rahmenhandlung sind im Vergleich zur eingebetteten Binnenhandlung alltäglicher Natur und dienen hauptsächlich zwei Zwecken: Erstens, um Situationen zu schaffen, in denen Josephine ihre Geschichte erzählen kann, und zweitens, um Ereignisse zu rechtfertigen, in denen der Stoff beschädigt wird. Doch machen gerade diese beinahe gewöhnlich erscheinenden Probleme einen wichtigen Ruhepol aus. Es entlastet das Zuhören, wenn man sich zwischen Schicksalsschlägen, Flucht und Krieg auch mit dem Bügeleisen oder den Selfies mit Stellas Idol Greta 'the Great' Rogatzki auseinandersetzen darf. Hierbei wurde ein angemessenes Gleichgewicht gefunden zwischen der teilweise gedrückten Stimmung, die aus den persönlichen Schicksalsschlägen sowie den historischen Ereignissen entsteht, und der locker-angespannten Beziehung zwischen den Familienmitgliedern.
Als Erzählerinnen fungieren sowohl die Großmutter Josephine als auch Stella selbst. Erstere übernimmt hauptsächlich die Binnenhandlung und letztere mischt sich nur selten ein, um Ereignisse der Rahmenhandlung zu raffen, Übergänge zu schaffen oder um Vorgänge zu beschreiben, die akustisch schwieriger umzusetzen sind. Deutlich wird der Wechsel zwischen Erzählinstanz und Figur unter anderem in den Stimmen: Während Stella beispielsweise als Figur aufgeregt und panisch dem Stoff hinterherjagt, übernimmt sie kurz darauf die rückblickende Erzählung auf ruhige und deutliche Weise, sodass klar wird, dass hier die Ebene gewechselt wurde. Auch Josephine hat als Erzählerin eine Stimme, die nur so viele Emotionen birgt, um die Grundstimmung des Erzählten aufzugreifen, während sie nach den Wechseln von der Erzählinstanz zur Figur der Rahmenerzählung zu stärkeren Wandlungen in ihrer Stimmung neigt.
Charakteristisch ist Josephines Stimme vor allem, da sie einen ausgeprägten amerikanischen Akzent hat, authentisch ist dies besonders, weil die Autorin Holly-Jane Rahlens selbst ihre Figur spricht und als gebürtige New Yorkerin eben diese Färbung besitzt. Auffällig ist jedoch, dass in einer Szene die junge Josephine einen Satz auf Deutsch spricht, diesen jedoch akzentfrei. Allerdings handelt es sich hier um eine andere Sprecherin, die keinen Akzent besitzt und diesen daher hätte imitieren müsste.
Besonders erwähnenswert ist das Vermögen des Hörspiels, die 'innere Bühne' zu bebildern. Dazu tragen nicht nur die Sprecherinnen und Sprecher bei, sondern gerade die Untermalung durch Musik und das geschickt-authentische Einbinden von Geräuschen sind essenziell für die Erzeugung der Atmosphäre. Durch das Einbringen von vielen kleinen Hintergrundgeräuschen, die man zum Teil gar nicht direkt bemerkt, wird immer ein klares Bild von der Situation geschaffen. Ob es sich um das Zwitschern von Vögeln oder ein belebtes Familienessen mit klapperndem Besteck, durcheinandersprechenden Menschen und quietschenden Stühlen handelt, es wird immer ein Bild gemalt, das man sich ohne große Mühen vor Augen rufen kann. Auch um historische Ereignisse wie die Reichspogromnacht und den Zweiten Weltkrieg akustisch aufzurufen, werden passende Geräusche aus der Zeit aufgegriffen und geschickt eingebunden. Besonders wirkungsvoll sind zudem die Geräusche, die zur Überblende von der Rahmen- in die Binnenhandlung genutzt werden. So hört man zunächst gebannt der Stimme von Oma Josephine zu, lauscht der beginnenden sanften Melodie und nach und nach kristallisieren sich die jeweils passenden Geräusche der Szenerie heraus und tragen einen sanft in die neue Geschichte.
Auf der Ebene der Musik wurde das Hörspiel ebenfalls reichlich ausgestattet, ohne jedoch überladen zu wirken. Als Leitmotiv fällt eine träumerisch wirkende Klaviermelodie auf, welche häufig dann auftaucht, wenn es um den Stoff mit dem goldenen Faden geht. Ansonsten gibt es eine große Variation verschiedenster Musikstücke, die passend die Stimmung aufgreifen oder als Schwelle für die verschiedenen Schritte und Ebenen der Erzählung dienen. Ob ausgelassene volkstümliche Musik auf Holzblasinstrumenten für die jüdische Hochzeitsfeier oder dissonante Musik auf der Flucht, die Situationen werden stehts passend unterlegt und bieten den Rezipientinnen und Rezipienten einige spannende Gefühlsalternationen an. Auch um den Wechsel der Erzählebene zu verdeutlichen, wird stets Musik verwendet, und selbst wenn Stella ihre Großmutter abrupt unterbricht, wird die leise Hintergrundmusik subtil und passend beendet, sodass keine Verwirrung entstehen kann.
Wiederkehrende intradiegetische Musik gibt es in Form des angedeuteten Popsongs von Greta Rogatzki, welcher von Stella und ihren Freundinnen gehört wird. So bildet dieses Lied einen starken Kontrast nach einer Episode über den zweiten Weltkrieg, wobei nicht nur der Zeitsprung, sondern auch der atmosphärische Wechsel stark betont und die gedrückte Stimmung auf der Ebene der Rahmenhandlung gelockert wird.
Fazit
Inhaltlich setzt sich das Hörspiel aus einer vielschichtigen Darstellung über Familie und Vergangenheit zusammen, welche durch den Wechsel von alltäglichen und historisch gewichtigen Themen immer eine wirkungsvolle Balance hält zwischen entspannter Unterhaltung und (an-)spannender Historie. Die authentisch wirkenden Figuren sind gepaart mit der gelungenen hörspielspezifischen Inszenierung durch Geräusche und Musik, die geschickt in die Erzählung eingebettet werden und die Hörerinnen und Hörer von Station zu Station mit dem blauen Stoff tragen.
Durch die verständliche Erzählweise werden auch die komplexeren Aspekte der Ereignisse nachvollziehbar und angemessen für Rezipientinnen und Rezipienten ab 9 Jahren inszeniert, ohne dass das Hörspiel dabei zu einer plumpen oder verharmlosenden Kindergeschichte wird, sodass auch Erwachsene mit Vergnügen und Spannung dem goldenen Faden folgen können.
- Name: Leonhard Koppelmann
- Name: Holly-Jane Rahlens