Inhalt

Für Laßdas Pinökel wird es höchste Zeit, seine Memoiren zu schreiben. "Ich werde die wichtigsten Dinge, die sich in den letzten elf Jahren ereignet haben, wahrheitsgemäß darstellen. Kein Wort ist gelogen" (III/02:13). Schon bei seiner Geburt war Laßdas so erwachsen, dass er sich an alles genau erinnern kann. Später erzählt er, dass die Treppe im Haus geklaut worden sei, oder berichtet, wie er den singenden Religionslehrer mit dem brennenden Adventskranz umfangen hat. Aber natürlich geht es auch um die Geschehnisse jenes Tages, an dem die Autos rückwärts fuhren. Dadurch entsteht ein riesiges Verkehrschaos, an dem Laßdas nicht ganz unschuldig ist, obwohl er nur seine Schultasche auf der Motorhaube von Herrn Doktor Bratseimers Auto abgestellt hat. Ob allerdings der blonde Gorilla aus dem Nachbarhaus und die neue Turn- und Physiklehrerin, die Laßdas’ Vater unterwegs getroffen hat, ein und dieselbe Person sind, kann nicht endgültig geklärt werden, und die Geschichte, wie Laßdas im Vorgarten explodiert, wird am Schluss nur angedeutet …

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Kritik

In den 1970er Jahren gibt es zwei Möglichkeiten, in die Welt der literarisch-medialen Kinderkultur einzusteigen: entweder mit Märchenschallplatten und Hörspieladaptionen zu Romanen wie Otfried Preußlers Die kleine Hexe. Geschichten also, die weiterhin Schonräume bieten und einer gewissen Bewahrpädagogik verpflichtet sind. Oder man wird direkt in die Welt des Antiautoritären und Anarchischen katapultiert. Dann steht neben der Sesamstraße (in Deutschland ab 1973) oder dem Feuerroten Spielmobil (ab 1972), den Veranstaltungen des Grips-Theaters (ab 1969) und Romanen wie Christine Nöstlingers Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972) definitiv auch Als die Autos rückwärts fuhren … auf dem Programm: entweder als Buch (1976) in robust-brauner Packpapieroptik oder – noch viel besser – als Hörspiel. 1977 kommt die Produktion auf den Markt, und Henning Venske ist als Autor und Sprecher des Vaters beteiligt. Im gleichen Jahr startet er, neben Lilo Pulver, in der deutschen Rahmenhandlung der Sesamstraße, mit seiner Stimme ist das kindliche Publikum also bestens vertraut. Venskes Als die Autos rückwärts fuhren … wird ein Erfolg und ist als Buch 1977 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, das Hörspiel wird mit dem Deutschen Schallplattenpreis prämiert.

Durchweg leidet Laßdas Pinökel unter seinem Vater, den er bestenfalls als Witzfigur gelten lässt. Hat man noch die zärtlichen und vertrauensvollen Vater-Sohn-Dialoge in Ursula Wölfels Feuerschuh und Windsandale (1961) oder Otfried Preußlers Der kleine Wassermann (1956) im Ohr, beides liegt in den 1970er Jahren auch als Hörspiel vor, so kommt Als die Autos rückwärts fuhren … einem familiensoziologischen und kindermedialen Erdbeben gleich. Was man über Vater Pinökel erfährt, stammt aus der Perspektive seines Sohnes, der keinerlei Respekt vor ihm hat und ihn als alt und hinfällig abstempelt: "Bei einem 33jährigen Vater kann man schon ganz kräftige Verfallserscheinungen feststellen. […] Ich will nicht sagen, dass mein Vater nicht ganz bei Verstand ist, aber richtig frisch ist er auch nicht mehr" (II/03:24).

Väter haben es nach 1968 nicht leicht, ihre patriarchale Reputation hat stark gelitten, dasselbe gilt für Lehrer, Polizisten sowie die Nachbarinnen und Nachbarn, die von Laßdas permanent verspottet und ohne jeglichen Respekt behandelt werden. Erwachsene sind insgesamt das Feindbild Nummer eins, das zeigt sich auch an den zum Teil äußerst kühnen Vergleichen: Die ineinander verkeilten Autos wirken "wie eine Horde Erwachsener, die beim Blauen Bock schunkeln will" (X/05:05), während der Gesichtsausdruck von Herrn Dr. Bratseimer aussieht "wie das Auto der Familie Krönsch: verbeultes Gesicht, als ob er vor eine Zentralheizung gelaufen wäre" (X/05:35).

Natürlich wird dabei kräftig in den jugendsprachlichen Fundus der 1970er gegriffen, der alles als "verwarzt" abtut – "'verwarzt', das war damals mein Lieblingswort" (IX/00:22), sagt Laßdas – und Frauen als "Torten" bezeichnet. Zwar entspricht Laßdas’ Sprache keineswegs den Forderungen der Erwachsenen, wenn sein Vater jedoch Kraftausdrücke benutzt – "Die Karre ist im Arsch!" –, vermag sein Sohn das keinesfalls zu goutieren: "Na, na, na, na. Ich mag das gar nicht, wenn mein Alter solche Ausdrücke gebraucht" (XII/03:12). Irritiert ist er auch, als er beim Hochklettern der Regenrinne durchs Fenster sieht, wie sein Vater mit seiner Mutter schmust und ihr dabei – "so richtig 'platsch'" (IV/03:08) – an den Busen fasst.

Für das besondere Flair dieser Produktion sind zunächst die Stimmen verantwortlich, vor allem die Ironie und Überheblichkeit, mit der der damals 14jährige Stephan Chrzescinski die Rolle des Laßdas Pinökel spricht, ist legendär. Darüber hinaus ist das Sounddesign zu erwähnen, wobei Geräusche in der Regel die Folgen von Laßdas’ Handlungen ausdrücken: Glas, das kaputt geht, oder quietschende Reifen bzw. das Geräusch, wenn Autos in andere Fahrzeuge "reinfetzen". Oftmals passen die Geräusche allerdings nicht zur Handlung, sondern sind ein weiterer Faktor von Laßdas’ Übertreibung, etwa, wenn es um das titelgebende Verkehrschaos geht und dazu die Motorengeräusche von Rennwagen zu hören sind. Aber es gibt auch die Untermalung mit stilisierten Geräuschen, die mit der E-Gitarre produziert werden.

Insgesamt ist die Musik von Carola Kretschmer die vielleicht ungewöhnlichste Zutat dieser Produktion. Kretschmer ist als Gitarristin in Udo Lindenbergs Panikorchester bekannt geworden und hat in Als die Autos rückwärts fuhren … die Rockmusik ins Kinderhörspiel transportiert. Ist das junge Publikum der 1970er Jahre an spieldosenartige und an Kinderliedern orientierte Musik im Hörspiel gewöhnt, so werden hier Textpassagen mit verfremdeten Gitarrenriffs rhythmisiert und Dialoge mit Rockmusik unterlegt, die Geschichte vom singenden Religionslehrer wird mit einer spektakulären Schubiduh-Version von Vom Himmel hoch garniert und auch Guten Abend, gute Nacht ist in der E-Gitarren-Bearbeitung nur noch vage zu erkennen.

Fazit

"Eins steht fest: Aufregender als Schneeweißchen und Rosenrot im Kindertheater war’s allemal" (XII/00:51), resümiert Laßdas Pinökel über das Verkehrschaos in seiner Stadt. Das lässt sich aber auch über Henning Venskes Hörspiel insgesamt sagen. Als die Autos rückwärts fuhren … ist ein wunderbares Zeitdokument, die Produktion unter der Regie von Werner Klein erscheint in einer Übergangsphase, in der traditionell gemachte Märchenhörspiele nach wie vor den Markt dominieren, und kurz bevor so prominente Kinderhörspielserien wie Die drei ??? (1979) und TKKG (1981) starten.

Von einer fesselnden Handlung kann allerdings keine Rede sein, auch die einzelnen Episoden sind zum Teil eher wirr erzählt. Was dennoch fasziniert, ist die Unverfrorenheit der Hauptfigur, Laßdas’ radikale Absage an Autoritäten und die ironische Distanz zu den Dingen. Verbunden mit den durchweg gut gewählten Stimmen und der sensationell schrägen Musik, welche die Produktion insgesamt prägt, dürfte das Hörspiel Kindern ab etwa 8 Jahren auch heute noch gefallen. Falls nicht, dürfen sie die CD, die LP oder die Download-Datei an Eltern und Großeltern weiterreichen, die schwelgen sicher gern in nostalgischen Gefühlen und wissen, dass dieses Hörspiel damals absoluter Kult war!

Titel: Als die Autos rückwärts fuhren ...
Regie:
  • Name: Werner Klein
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Henning Venske
Sprechende: Stephan Chrzescinski (Laßdas Pinökel), Henning Venske (Vater), Christine Teelen (Mutter) sowie Ursula Vogel, Michael Weckler, Ingeborg Oehme-Troendle, Rainer Schmitt und Werner Klein
Produktion: WDR/Phonogram 1976, Ursendung 1977, Highscore Music 2008, Der Audio Verlag 2019
Erscheinungsjahr: 1977/2019
Dauer (Minuten): 52
Preis: 14,99
Altersempfehlung Redaktion: 8 Jahre
Venske, Henning: Als die Autos rückwärts fuhren … (Hörspiel)