Inhalt
Aylin staunt nicht schlecht, als eines Tages ein fremder Junge in ihrem Kleiderschrank steht. Damit nicht genug: Dieser Junge erzählt ihr, dass sie eigentlich Clevergirl heiße und eine Superheldin vom fernen Planeten Superus 4 sei. Er fleht sie an, ihn zu begleiten, um die Bewohner*innen zu retten und von den bösen Machthabern zu befreien. Obwohl Aylin ihm kein Wort glaubt, stimmt sie schließlich doch zu und lässt sich auf Angstmäns Raumschiff beamen. Ehe die beiden sich versehen, stecken sie mitten in einer gefährlichen Rettungsmission, auf der sie sich nicht nur vor den zwei Verfolgern der Wachtruppen von Superus 4 in Acht nehmen müssen. Gemeinsam meistern sie viele gefährliche Situationen. Dabei erhalten die beiden unerwartet Hilfe und lüften ganz nebenbei das Geheimnis um Clevergirls Herkunft.
Kritik
Hartmut El Kurdi knüpft mit Clevergirl an sein berühmt gewordenes Hörspiel Angstmän (2006) an, in dem der titelgebende Held sich gegen Pöbelmann behaupten muss. Hier ist allerdings nicht Angstmän der Protagonist, sondern seine Zwillingsschwester. Wie schon bei Angstmän, so geht es auch hier um Selbstfindung, die Überwindung von Ängsten und darum, für sich selbst einzustehen.
Das Hörspiel beginnt mit einzelnen leisen Klaviertönen, wobei die Illusion erzeugt wird, dass diese von weitem immer näherkommen (vgl. 00:01). Das symbolisiert die Weiten des Weltalls und simuliert das Eintauchen in die Unendlichkeit. In diese Klavierklänge hinein spricht die Erzählerstimme zuerst langsam und getragen, dann mit zunehmend fröhlicher Stimme die einleitenden Worte:
Der Weltraum – unendliche Weiten. Dies sind die Abenteuer der klugen und mutigen Nachwuchssuperheldin Clevergirl, die, gemeinsam mit ihrem schisshasigen, aber doch ganz okayen Bruder Angstmän, auf ihrem viele Lichtjahre entfernten Heimatplaneten Superus 4 einer dunklen Macht entgegentritt, um die Galaxie vor der kompletten Verdummung zu retten. (00:04)
Die anfänglich dezente Hintergrundmusik entwickelt sich anschließend zur eindrucksvoll aufspielenden orchestralen Musik (vgl. 00:13). Dabei tritt nach und nach die Geige, begleitet von Pauken und Hörnern, in den Vordergrund (vgl. 00:30). Musikalisch lassen sich hier Anspielungen zu bekannten Filmen ausmachen, beispielsweise zur Titelmelodie der Indiana Jones-Filme, The Raiser March.
Die tonale Ebene unterstützt während des gesamten Hörspiels die Stimmung der einzelnen Szenen: Als Clevergirl beispielsweise mit ihrem Superheldinnenanzug aus der Umkleide tritt, ertönt aus dem Hintergrund dezente vielstimmige Musik mit feierlich klingenden Hörnern (vgl. 20:30). Darüber hinaus fördern simulierte Bewegungsklänge wie das zischende Geräusch, wenn sich die Figuren auf ihre Raumschiffe beamen, die Vorstellungsbildung (vgl. 11:50). Außerdem fungiert der sirenenartige Ausschlag der Suchgeräte der Wachtruppen (vgl. 11:17) immer wieder als Szenentrenner und erinnert die Zwillinge daran, dass sie verfolgt werden und sich beeilen müssen.
Der einerseits heldenhaft und kämpferisch wirkende Einstieg, der aber andererseits auch zum Schmunzeln einlädt, ist beispielhaft für das gesamte Hörspiel. Bereits die ersten Minuten des Hörspiels demonstrieren: Es wird nicht einfach irgendein Abenteuer zweier Kinder erzählt. Hier geht es um Superheld*innen, die mindestens genauso mutig sind, wenn nicht sogar noch mutiger, als die „großen“ Sciencefiction-Held*innen wie Superman oder Thor. Die beiden Kinder werden im Verlauf des Hörspiels zu Retter*innen der gesamten Galaxie und die Erwachsenen zu Randfiguren.
Von Anfang an ist in der Handlung aber auch die Auseinandersetzung mit der Kategorie „Gender“ präsent, wenngleich das Hörspiel bis zum Schluss in binären Ordnungen bleibt. Schon vor dem Abenteuer fällt auf, dass sich Aylin definitiv nicht in das Klischee einfügt, demzufolge Mädchen weniger Interesse an MINT-Fächern haben: Sie ist nämlich außerordentlich mathematikbegabt und kommentiert das lapidar mit den Worten: „Ich bin eben einfach gut in Mathe“ (08:35). Schade ist, dass diese Mathematikbegabung später dann dadurch erklärt wird, dass sie Superheldin auf einem anderen Planeten ist. Das Mädchen ist also nicht besonders mathematikbegabt, sondern Superheldin und Außerirdische und dadurch ohnehin mit ungewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet. Sie liebt Geschichten von Piratinnen und möchte am liebsten Karate machen (vgl. 30:15, 09:40). Mit Prinzessinnenbüchern und Ballett kann sie nichts anfangen, sehr zum Leidwesen ihrer Eltern (vgl. 30:11, 09:42).
Auch in der Begegnung von Angstmän und Aylin setzt sich die Auseinandersetzung mit Individualität und Geschlechterklischees fort: So ist Angstmän „der größte Schisshase, der fantastischste Angstbeutel im ganzen Universum“ (09:00) und leidet darunter, dass er nicht zum Ballett darf. Stattdessen wird erwartet, dass Angstmän sich für Galaktikball, ein rugbyähnliches Spiel, interessiert (vgl. 29:10). Trotz aller Versuche der Eltern, die beiden Kinder für vermeintlich geschlechtertypische Interessen zu begeistern, lassen sich Clevergirl und Angstmän nicht beirren. Beide Kinder verstehen nicht, warum ihre Eltern oder andere Personen ein Problem damit haben könnten, und halten an ihren Interessen fest. Angstmän stellt klar: „[I]ich mag das, was ich mag, und ich zieh gerne an, was ich anziehe, und ich spiel gern, was ich gerne spiele. Ist doch gar nicht so schwer“ (30:05). Auch Aylin macht deutlich, dass sie keinen Grund sieht, sich zu ändern, auch wenn andere sich über sie wundern (vgl. 30:11). Die beiden Kinder kennen die Erwartungen und Wünsche ihrer Eltern und sprechen darüber, aber bleiben sich trotzdem immer selbst treu. Bezeichnenderweise treten Aylins Adoptiveltern während des gesamten Hörspiels nie als sprechende Figuren auf. Auch Energyman, der Vater von Clevergirl und Angstmän, äußert sich nie direkt zu den Interessen seiner Kinder. Das letzte Wort behalten dadurch die Superzwillinge.
Ganz im Gegensatz zu Clevergirl und Angstmän erfüllen die meisten der auftretenden Erwachsenen blind die an sie gestellten Erwartungen. Nicht nur in der Erwachsenenwelt auf der Erde, auch auf Superus 4 scheint kein Platz für Individualität zu sein. Die bösen Fieslinge treten gleich zu Beginn des Hörspiels als unnatürlich verzerrte Computerstimme mit starkem Hall auf (vgl. 00:57). Statt eines Namens verlangt die Computerstimme in herrischem, fast bellendem Tonfall den Identifizierungscode eines Mitglieds der Wachtruppen (vgl. 01:01). Letzterer besteht aus zusammenhanglosen Buchstaben und Zahlen. Auch die Machthaber haben klare Erwartungen, wer auf Superus 4 welche Dinge tun darf und wer nicht. Allen voran dürfen Mädchen nicht zur Schule gehen und auf gar keinen Fall Superheldin werden (vgl. 41:04, 06:50). Angstmän kommentiert diese Vorstellungen mit der entnervten Bemerkung, dass alle Bösen sowieso immer das Gleiche wollen: „Bestimmen, Chef sein, quälen und demütigen und sie hassen es, wenn andere anders sind als sie – lustiger, verrückter, dicker, dünner, hübscher, vor allem klüger“ (17:53).
In Bezug auf die Stimmgestaltung sind bei Clevergirl, Angstmän, Kevin alias Rebellion und Energyman keine überzogenen Stimmensätze oder Artikulationsformen zu bemerken. Die Figuren artikulieren allesamt sehr natürlich, wenngleich die Stimmhöhe zwischen männlich und weiblich gelesenen Figuren variiert. Insbesondere bei der Figur Kevin ist die Sprechstimme insofern genderneutral, als nicht sofort identifizierbar ist, ob es sich um eine männliche oder eine weibliche Figur handelt.
Eine Ausnahme dazu bildet die Figur Captain Fashion. Er ist der Inhaber der Modeboutique „Très Chic“ auf dem Outlet-Planeten Modanova. Dort kauft, so der Erzähler, das gesamte Universum „Haute Couture Planétaire, Superhelden Prêt-à-porter und Milkyway Streetwear“ (14:59). Bevor die Superheldenzwillinge ihre große Mission starten können, besuchen sie Captain Fashion in seinem Laden und lassen sich beim Kauf des Superheldinnenanzugs und der strahlensicheren Unterwäsche für Clevergirl beraten. Dieser entpuppt sich überraschend als Verbündeter. Er verschafft Clevergirl und Angstmän einen Vorsprung auf der Flucht vor ihren Verfolgern, indem er Kevin, den Auszubildenden der Wachtruppen, in ein Verkaufsgespräch verwickelt. Leider spricht die Figur des Captain Fashion mit geradezu säuselnder und künstlich überzogener Stimme. Er begrüßt die beiden mit den Worten: „Hello, hello, hello, meine Süßen“ (16:09), nennt Clevergirl „Honey“ (17:20) und betont: „Der Superheld ist bei mir König. Oder Königin. Oder everything in between“ (23:40). Für diese Erwachsenenfigur spielen Genderklischees offenbar keine Rolle. Schade ist, dass gerade diese Figur mit solch künstlich überformter Stimme spricht. Dies soll an dieser Stelle wohl als Komik-Element verstanden werden, dennoch ließe sich darauf getrost verzichten.
Fazit
Das Hörspiel nimmt zwar von Anfang an das Thema „Gender“ in den Blick, jedoch ohne zu polarisieren. Vielmehr wirbt es geradezu selbstverständlich dafür, dass jede*r etwas anderes gut kann und man sich nicht den Wünschen oder Erwartungen anderer unterordnen sollte. Die umgreifende Klammer der Selbstentfaltung wird im Schlusssong aufgegriffen und geschlossen. Dieser wird zwar von den Stimmen der Sprecher*innen gesungen, die Figuren als solche treten namentlich jedoch nicht auf. Der Song schließt mit der allgemeinen Ermutigung: „Du bist Heldin. Ich bin Heldin. Er ist Heldin. Sie ist Heldin. Super-Superhelden“ (48:35). Warum im Plural das generische Maskulinum auftritt, bleibt ungeklärt.
Neben lustigen Umschreibungen wie dem „Aufenthaltsraum für irdischen Nachwuchs“ statt Kinderzimmer, finden sich zahlreiche Wortspielereien wie der Outletplanet „Modanova“, aber auch Anspielungen beispielsweise auf Meister Yoda aus Star Wars und viele weitere „große“ Helden. Dies eröffnet ein Hörvergnügen gerade auch für ältere Hörer*innen. Somit ist das Hörspiel nicht nur geeignet für Kinder ab 8 Jahren. Aufgrund der Leichtigkeit des Spiels mit Genderklischees und der lebhaften Klanggestaltung wurde das Hörspiel verdientermaßen mit dem Kinderhörspielpreis 2022 ausgezeichnet.
- Name: Claudia Johanna Leist
- Name: Hartmut El Kurdi