Inhalt
Im Zentrum der Handlung steht die elfjährige Kascha, die kürzlich mit ihrer Sinti-Familie von Süddeutschland in den Norden Deutschlands gezogen ist. Groß-Mooren heißt das Dorf, in dem Kascha nun mit ihrer Familie auf einem alten Hof lebt. Sie hat Heimweh und fühlt sich von zahlreichen Problemen erdrückt: In der Schule werden die Sinti-Kinder offen ausgegrenzt und finden keinen Anschluss. Kascha hängt sehr an ihrer älteren Schwester Zippi, und ist schockiert, als ihr klar wird, dass diese den Plan hat, die Familie zu verlassen und zu ihrem neuen Freund zu ziehen. Was soll sie nur ohne Zippi anfangen? Zu allem Überfluss stellt sich dann auch noch heraus, dass es sich bei dem Freund der Schwester um Donny handelt, in den Kascha selbst im letzten Sommer verliebt war. Ihr geliebter Großvater, der "Puro" ist alt und wird bald sterben. Doch dann kommt die Schneekatastrophe, die alles durcheinanderwirbelt und das ganze Dorf in Aufruhr versetzt. In der Not kann die Sinti-Familie den skeptischen Dorfbewohnern zeigen, was in ihnen steckt: Sie nehmen die Nachbarn bei sich auf, bei denen der Strom ausgefallen ist, denn sie haben eine beheizte Scheune, Gasherd, Holzofen und Campingkocher. Einige Nachbarn nehmen das Angebot von Kaschas Vater "Dada" an, und so wachsen durch die Schneekatastrophe ganz langsam neue Beziehungen zwischen Kaschas Familie und den Dorfbewohnern. Auch die Cousine, deren Vater kein Sinti ist und daher als "Gadsche" bezeichnet wird, strandet mit ihrem Vater Harald in der Scheune von Kaschas Familie. Zunächst lehnen die Mädchen einander offen ab. Dann findet jedoch eine vorsichtige, schrittweise Annäherung zwischen Kascha und ihrer Cousine Bettina statt, die sie für sich abfällig "Hühnerblase" nennt. Am Ende erkennt die Protagonistin, dass ihre Cousine nicht nur schlechte Seiten hat und kann sich ihr freundschaftlich öffnen. Ihre Situation in der Schule verändert sich ebenfalls, wobei es Kascha noch schwerfällt, sich gegen Freundlichkeiten nicht zu sperren. Zu sehr hatte sie bislang in ihrer eigenen Welt gelebt, sich besonders gerne mit Tim und Struppi-Comics zurückgezogen. Es ist die Cousine, die Kascha schließlich darauf hinweist, dass sie für ihre Situation auch selbst verantwortlich ist.
Ein weiterer Handlungsstrang bezieht sich auf den Mord an drei Sinti-Frauen im Zweiten Weltkrieg, ein Stück Familiengeschichte, die bis in die Gegenwart wirkt und für Kaschas Familie ein wichtiges Thema ist. Sie fungiert für die kindliche Protagonistin auch als Rechtfertigung dafür, dass sie alle Nicht-Sinti ablehnt: "Mama und Puro haben immer noch Angst, weil die Mörder nie gefunden wurden. Die Gadsche halten zusammen, sie verraten nicht, wer es war" (S.187).
Und damit nicht genug innerer Druck für die Protagonistin. Während der Schneekatastrophe liest sie auch noch einen an einen Rechtsanwalt adressierten Briefes des Nachbarn, der eine Schadensersatzklage anstrebt, weil er mit den Sinti als Nachbarn weniger Erlös für den Verkauf seines Hofes erwarten kann. Doch schließlich kann sich auch dies aufklären. Nach den Tagen der Schneekatastrophe fühlt sich der Nachbar tief beschämt und will den Brief nicht mehr abschicken.
So steht am Ende der Ausblick auf mehr Integration der Familie in die Dorfgemeinschaft. In der Not sind alle zusammengerückt und haben sich besser kennengelernt. Aber ein Happy End gibt es nicht. Erstens ist Kascha nach wie vor skeptisch und traut dem Frieden nicht. Zweitens stirbt der Großvater, ihr geliebter Puro, was einen herben Verlust und Einschnitt für alle bedeutet. Abschließend reflektiert die Ich-Erzählerin:
Ich finde, seit den Ereignissen nach dem Tod meines Großvaters hat sich zwischen den Groß- Moorern und uns alles sehr schön zurechtgerückt. Viele standen am Straßenrand, als der Wagen mit meinem Puro hinter dem letzten Schneepflug durchs Dorf rollte, einige kamen sogar zur Beerdigung. Sie sind nett geworden, winken uns zu und bleiben für ein Schwätzchen mit meinen Eltern jederzeit stehen. Aber du merkst ihnen an, dass sie heimlich vermuten, mit uns stimmte vielleicht doch was nicht. (S.315f.)
Kritik
Mit Kascha Nord-Nordost stellt Anne C. Voorhoeve ein weiteres Mal unter Beweis, dass sie die Kunst der feinsinnigen Recherche für geschichtserzählende und zeitgeschichtliche Texte exzellent beherrscht. Wie schon in ihren Romanen Lilly unter den Linden und Liverpool Street gelingt es der Autorin, Geschichte für ein jugendliches Lesepublikum anschaulich aufzubereiten. Sie erschließt in diesem Roman ein Thema, das bisher noch nicht im Fokus der Jugendliteratur stand, indem sie die Schneekatastrophen ins Zentrum rückt, die Norddeutschland vom 28.12.1978 bis 3.1.1979 und 13. bis 16. 2. 1979 erfassten. In den Worterklärungen verweist sie darauf, dass sie aus dramaturgischen Gründen in der Geschichte von Kascha und ihrer Familie den zweiten Wintereinbruch um einige Wochen vorverlegt habe. Von dieser bewussten Finesse abgesehen, überzeugt Voorhoeve hier einmal mehr durch ihre detailgetreuen Recherchen, mithilfe derer hier Geschichte vermittelt wird.
Es handelt sich um eine homodiegetische Erzählung, die streng an die Perspektive der Ich-Erzählerin Kascha gebunden ist, sodass sich die Ereignisse allein aus ihrem Blickwinkel spiegeln. Die Konzeption der Hauptfigur wirkt feinsinnig und sensibel, was mit dem konsequent gewährten Blick ins Innere der Protagonistin Kascha korrespondiert. Vorsichtig, scheu und eher misstrauisch ist sie, ist tendenziell zurückgezogen und reflektiert fortwährend eigene Handlungsschritte:
Ich wusste selbst nicht, warum ich zögerte, Hühnerblase von dem Mord zu erzählen – es war ja keineswegs ein Geheimnis. Aber plötzlich hatte ich ein ganz dummes Gefühl, als könnte ich irgendwas Unvorhergesehenes auslösen, wenn ich mit ihr redete. (S.187)
Zugunsten der psychologisch glaubwürdigen Erzählweise, die nah an der Hauptfigur und ihrem inneren Erleben bleibt, verzichtet der Text auf schnelle, drastische Handlungsabläufe. Vor diesem Hintergrund könnte man auch konstatieren, die Geschichte nehme nur langsam Fahrt auf, sei zu wenig spannend, denn die Erzählerin lässt sich Zeit mit den Geschehnissen. Dies wiederum passt zum Handlungsrahmen: Der Schnee fällt, und alles wird langsam unter ihm begraben. Kascha schneit mit Familie und Nachbarn ein und kann so langsame, vorsichtige Entwicklungsschritte vollziehen. Ebenso dazu passt die nüchterne Sprache, mit der Gedanken, Gefühle und das Erleben der Ich-Erzählerin wiedergegeben werden:
Es roch frisch und weiß und salzig, nie zuvor hatte ich Groß-Mooren so gerochen, und je länger ich dastand, desto mulmiger wurde mir. Dies war kein gewöhnlicher Schnee. Dieser Schnee hatte etwas vor. Er konnte alles außer Kraft setzen, wenn wir nicht aufpassten. (S.152)
Eine Geschichte von Winter und Schnee – und eine Geschichte von Ausgrenzung, die weder belehrt noch anklagt. Der Leser kann sich selbst ein Bild von den Figuren machen, die in der Scheune zusammenkommen, während draußen die Welt im Schnee versinkt.
Bei jugendlichen Lesern setzt dieser Erzählton sicherlich die Bereitschaft voraus, sich auf das Thema einzulassen. Bei der Lektüre erfährt man viel über die Geschichte der Sinti und über die Schneekatastrophe in Norddeutschland in den 1970er Jahren. Beides sind Bereiche, mit denen Voorhoeve in dieser Weise jugendliterarisches Neuland absteckt. So sei das Buch Jugendlichen ab 14 Jahren empfohlen, die ein gewisses historisches Interesse mitbringen und offen für die spezielle Thematik sind.
Fazit
Ein gutes, lesenswertes historisches Jugendbuch, exzellent recherchiert und psychologisch feinfühlig - typisch Anne C. Voorhoeve.
- Name: Voorhoeve, Anne C.