Inhalt
Jedes Jahr im Herbst, im Monat des Sternbildes Skorpion, steigen tonnenschwere Pferde aus dem Meer der Insel Thisby – die sogenannten Capaill Uisce: schön, stark, schnell wie der Wind, tückisch wie die See. Sie sind voller Feuer, Ungeduld und hungrig wie ihre Reiter, die dem feierlichen Skorpio-Rennen entgegenfiebern. Inselmatador ist seit Jahren der Stalljunge Sean Kendrick mit seinem feuerroten Hengst Corr, den er einst aus dem Meer führte und seit Jahren trainiert. Wie er versuchen viele andere Jockeys mit ihren Wasserkolossen beim Strandrennen sehr schnell zu sein. Gleichzeitig müssen sie ihre Capaill Uisce vom Wasser fernhalten, da diese besessen sind, Menschen mit sich ins Meer zu ziehen und zu zerfleischen. Schon beim Training muss manch ein Mann sein Leben lassen. Vielleicht auch eine Frau? Denn dieses Jahr ist alles anders!
Das Waisenmädchen Kate Connolly, genannt Puck, wagt es, an dem großen Spektakel der männlichen Welt teilzunehmen. Puck wird verlacht und verhöhnt, erst recht mit ihrer sandfarbenen Landstute Dove, die gegen ein Capall Uisce wie ein Spielzeugpferd aussieht. Allen zum Trotz bekundet Puck rituell durch einen Tropfen ihres Blutes das Rennen mit Dove zu bestreiten, um mit dem Preisgeld ihr Leben und das ihrer zwei Brüder verbessern, das Haus ihrer Eltern vor dem Verkauf retten und ihre Liebe zur Insel für die Zukunft bewahren zu können. Fast täglich trainieren Puck und Dove, unterstützt auch von Sean und seinem auf einem Auge blinden Wasserriesen Corr, der an Schnelligkeit kaum zu übertreffen ist. Gemeinsam bezwingen sie Klippen und Strand nahe der Skorpio-See und machen sich mit den Gepflogenheiten der Männer und ihrer Pferde vertraut. Wie Puck will und muss auch Sean den Wettkampf gewinnen, um dieses Jahr sich und Corr vom Reiterhof freikaufen zu können. Doch Mutt Malvern, der Sohn des Gestütbesitzers, setzt alles daran, das zu verhindern und den Tag des Rennens zur Hölle werden zu lassen – "Nichts ist je so rot wie das Meer an diesem Tag." (S. 11)
Kritik
Wortgewaltig und metaphernreich gestaltet die US-amerikanische Autorin Maggie Stiefvater, selbst eine hervorragende Pferdezeichnerin, den Roman Rot wie das Meer, der auf die facettenreiche Mythologie des Pferdes zurückgreift, die subtil im von Puck und Sean erzählten Plot eingewebt ist. Beide Jugendlichen berichten abwechselnd über die Vorbereitungen und Geschehnisse rundum das berühmte Skorpio-Rennen ihrer Heimatinsel (Originaltitel des Romans: The Scorpio Races), das alljährlich auf Wasserpferden bestritten wird, die in der keltischen Folklore u. a. als Capaill Uisce (gesprochen: KAPple ISCHke) bekannt sind. Dem Mythos nach bewohnt diese Figur Meere, Seen oder Flüsse und lockt mit ihrer unvergleichlichen Schönheit und ihrem unwiderstehlichen Gesang den Menschen ins tiefe Wasser, wo dieser ertrinkt oder vom Capall Uisce verschlungen wird. Dessen Zähmung gelänge nur dann, wenn man ihm Zügel anlege und es vom Wasser fernhalte, was wagemutige Männer im Roman auf Leben und Tod tun. Nicht nur für den Wettkampf, der Touristen auf das karge, weit abgelegene Thisby zieht, holen sie die wilden wuchtigen Pferde aus dem Meer, sondern ebenso, um sie höchstbietend zu verkaufen und sich wirtschaftlich über Wasser zu halten. Auch der 19-Jährige Sean hat den Wasserhengst Corr bändigen können, zu dem er über Jahre hinweg ein liebevolles Verhältnis aufgebaut hat, das ihre Rennerfolge mit begründet, jedoch die Gefährlichkeit des Tieres vergessen lässt. Im blitzschnellen Corr spiegelt sich nicht nur Pegasus wider, der für die Griechen Unsterblichkeit symbolisierte, sondern auch Sleipnir, das Lieblingspferd des nordischen Gottes Odin, das aufgrund seiner acht Beine als außergewöhnlich schnell galt.
Doch das Jugendbuch besticht nicht nur wegen seiner mythologischen Reminiszenzen, sondern auch durch das Wirken Kates, die zum ersten Mal wagt, in die harte und schroffe Welt der Männer, mit ihren gefährlichen Pferden, Spielen und Riten einzudringen. Als junge Frau ist sie zusammen mit ihrer Stute Dove, die schon namentlich auf ein sanftes Gemüt weist, das dem Blutdurst der Capaill Uisce entgegensteht, Außenseiterin. Doch die teils garstige und provokante Kate, die nicht umsonst den Spitznamen Puck (dt.: Kobold) trägt, kann durch Willenskraft und Beharrlichkeit ihren Platz im Skorpio-Rennen behaupten. Selbstlos wird sie dabei von dem Einzelgänger Sean unterstützt, der ihre Unerschrockenheit ebenso bewundert wie ihren Glauben, den Wettkampf gewinnen zu können. Durch ihr Auftreten, mit dem sie allen Hindernissen und aller Verachtung trotzt, um ihre Familie zu retten, erkennt Sean, dass es auch für ihn lebenswert ist, um Corr zu kämpfen, den der Gestütsbesitzer für sich einfordert. So ist das Rennen für beide Reiter auch ein Kampf um das Leben und die Freiheit jener, die sie lieben sowie ein Ausdruck ihrer Zuneigung zueinander.
Rot wie das Meer beeindruckt nicht nur durch das ungewöhnliche, mythologisch inspirierte Sujet, sondern auch durch den tiefsinnigen, poetischen Schreibstil, der in der deutschen Übersetzung gelungen bewahrt wurde. Die Mythologie des Pferdes wird im Roman durch keine Figur direkt als solche thematisiert, vielmehr hat der Leser den Eindruck, dass diese besonderen Pferde ganz natürlich Teil der Romanrealität und keine erdichteten Wesen sind. Realistisch und authentisch zeichnet die Schriftstellerin nicht nur diese Capaill Uisce, die beiden Protagonisten sowie die Insel Thisby, sondern auch bedeutende Nebenfiguren, von denen einige dem Werk auch eine humorvolle Nuance verleihen. In das überwiegend im Präsens erzählte Geschehen ist der Leser unmittelbar involviert, das chronologisch und nachvollziehbar präsentiert wird: Die Vorbereitungen auf den Wettkampf dehnen sich über den Großteil der 66 Kapitel aus, während das eigentliche Novemberrennen in einem Kapitel von den Hauptfiguren im schnellen Wechsel – fast simultan – geschildert wird. So kann bis zum Schluss Spannung gehalten werden. Mit Blick auf die menschliche Liebesbeziehung mag die Erzählung für manch einen Leser in ein offenes Ende münden; für Mensch und Tier gestaltet sich dieses so unerwartet wie hoffnungsvoll.
Fazit
Maggie Stiefvater beschreibt in Rot wie das Meer Freundschaft und Liebe zwischen Menschen sowie zwischen Tier und Mensch als Lebenswerte, die von gegenseitigem Respekt und Vertrauen gehalten und getragen werden. Motive wie Mut und Selbstlosigkeit, Härte und Sanftmut vermag sie packend und überzeugend zu inszenieren. Wie in der Bestseller-Trilogie The Wolves of Mercy Falls (Nach dem Sommer-Trilogie, dt. Erstausgabe 2014/2015) und dem Roman Wen der Rabe ruft (dt. Erstausgabe 2013) gelingt es ihr, Plot und Setting mit (Keltisch-)Mythologischem fein und glaubwürdig zu durchziehen, ohne das Fantasy-Genre explizit zu bedienen. Das Buch wird aufgrund des Kontrastes von körperlicher Brutalität und feinsinniger Gefühlstiefe ab dem sechzehnten Lebensjahr empfohlen.
Quellen
Maggie Stiefvater als Zeichnerin:
https://www.youtube.com/watch?v=7racPSeIoMs bzw. http://www.artmajeur.com/en/artist/maggiestiefvater/collection/equestrian-art/1095437 [16.09.2016]
- Name: Stiefvater, Maggie
- Name: Sandra Knuffinke
- Name: Jessika Komina