Inhalt

Der schmächtige, stotternde und sensible Neftalí, dessen Leidenschaften die Sprache, das Schreiben und die Natur sind, lebt in seiner eigenen Welt aus Tagträumen, Fantasien und gesammelten Gegenständen. In der Schule als Außenseiter gemieden, fühlt sich Neftalí einsam. Doch damit nicht genug. Neftalís konservativer Vater José sieht in seinem Sohn einen irrationalen und schwachen Jungen, den es gilt, durch einen autoritären Erziehungsstil zu einem starken, hart arbeitenden Mann zu machen. Vom Vater initiierte Ausflüge zu vermeintlich schönen, angstfreien Orten in der Natur entpuppen sich so als reine Disziplinierungsmaßnahmen. Neftalís Erfolge im Schreiben und Dichten werden klein gehalten oder gar zunichte gemacht. Die stetigen Erniedrigungen seines Vaters lassen Neftalí schließlich zweifeln: Wird sein Traum, Dichter zu werden, jemals in Erfüllung gehen? 

Kritik

Zweifelsohne erfindet Pam Muños Ryan mit dem bekannten Motiv des sich emanzipierenden Außenseiters den Jugendroman nicht neu. Dies scheint allerdings auch nicht ihre Intention zu sein. Vielmehr fasziniert dieser Roman durch eine hingebungsvolle, einfühlsame Poetik, mit der es der Autorin gelingt, Inhalt, Dramaturgie und sprachliche Gestaltung durchweg harmonisch miteinander zu vereinen. 

Hierzu bedient sich Muños Ryan des gesamten Spektrums bildhafter Beschreibungen und spricht damit eine junge wie ältere Leserschaft gleichermaßen an. Wenn der verängstigte Neftalí plötzlich das Gefühl hat, "seine Haut würde schrumpfen" (S. 5) oder der Geruch der Meeresluft synästhetisch als "ein Flüstern von Fisch und Salz" (S. 157) beschrieben wird, dann erscheint es, als bekämen vermeintlich 'unbeschreibliche' Empfindungen und Wahrnehmungen des Protagonisten eine Stimme. Dieses höchst anschauliche Erzählen schafft für den jugendlichen Rezipienten nicht nur ein Identifikationspotenzial, sondern macht zugleich Mut zu einer aufmerksameren Wahrnehmung der eigenen Person sowie der Umwelt. 

Parallel zum 'Wachstum' der Metaphorik im Verlauf des Romans erfolgt  Neftalís Emanzipation von den starren Vorstellungen seines Vaters: „Die Lyrik hatte ihm den Weg vorgezeichnet“ (S. 341). Zu den kindlich wirkenden Vergleichen (Tannenzapfenschuppen als "Karussell schillernder Flügel", S. 106), Personifikationen ("die gefräßigen Wellen", S. 196) und Metaphern ("Konzert der Regentropfen", S. 8) aus dem Naturbereich treten im Laufe des Werks vermehrt bildhafte Ausdrucksweisen aus dem abstrakteren Bereich der Emotionen hinzu. Waren es zu Beginn des Romans noch einzelne Wörter, die "in der Schublade begannen zu rascheln" (S. 22), verfasst Neftalí unter dem Decknamen Pablo Neruda zum Ende des Romans Liebesgedichte "so warm und geschmeidig wie die Wolle seines geliebten Schafes" (S. 343) sowie Essays voller Wut, "die anklagten, zustachen und niederbrannten" (S. 343). Die im Roman zahlreich und sorgfältig eingearbeiteten biografischen Bezüge zum Leben und Wirken Pablo Nerudas ermöglichen es vor allem jungen Lesern, sich der speziellen Art der Poesie des chilenischen Dichters und Schriftstellers zu nähern. Mit Metonymien und Allegorien rund um das Symbol des Feuers für Zerstörung und Neuanfang zugleich gelingt es der Autorin nicht zuletzt, die oftmals nahe beieinander liegenden Gefühle Verzweiflung und Hoffnung auf poetische Art und Weise zum Ausdruck zu bringen. 

Ebenso wie die Metaphorik folgen auch die Handlungsorte Neftalís Entwicklung. Dies erreicht Muños Ryan vor allem durch eine starke Symbolträchtigkeit der jeweiligen Orte als Stationen für Neftalís schrittweise Emanzipation. Negativ konnotiert sind etwa die Schule, das Sommerhaus am Meer und bisweilen auch Neftalís Zuhause in Temuco, denn dort erfährt er Ablehnung, Einschränkungen und Zwang. Demgegenüber stehen positiv besetzte Orte wie Neftalís Traumwelt, der Wald, die Bibliothek, die Redaktion und schließlich die Universität. Diese Orte stellen Refugien für Neftalí dar, die Glück und Zufriedenheit sowie Freiheit und Unabhängigkeit versprechen. 

Im Zusammenspiel mit der Fülle an bildsprachlichen Ausdrücken lassen die unifarbenen, punktierten Zeichnungen von Peter Sís  den Roman zu einem Gesamtkunstwerk werden. Interessant sind hierbei die verschiedenen Funktionen, die die graphischen Elemente erfüllen. So dienen diese beispielsweise nicht nur der Veranschaulichung des Textinhalts, sondern greifen auch proleptisch auf das jeweils folgende Kapitel vor. Besonders schmuckvoll wirken zudem die Zeichnungen zu den erzählbegleitenden philosophischen Fragestellungen: So illustriert das Bild eines sich aus den lodernden Flammen erhebenden, aus Schriftzeichen zusammengesetzten Phoenix‘ aus der Asche den philosophischen Exkurs zur Frage, ob Feuer aus Worten oder Worte aus Feuer geboren werden. 

Fazit 

Durch die Verwendung zahlreicher bildsprachlicher Ausdrucksweisen gelingt es Pam Muños Ryan, Neftalís Geschichte anschaulich und poetisch zugleich zu gestalten. Die sensible Abstimmung von Sprache, Text- und Bildinhalt machen den Jugendroman Der Träumer zu einem vielschichtigen Werk, das den Deutschen Jugendliteraturpreis 2015 zu Recht erhalten hat. 

Die vom Verlag herausgegebene Altersempfehlung von 10 bis 12 Jahren betrachte ich angesichts des bisweilen hohen Maßes an sprachlicher Komplexität als nicht adäquat. Geeignet erscheint das Buch vielmehr für Kinder ab 12 Jahren im Übergang zur Jugendlichkeit.

Titel: Der Träumer
Autor/-in:
  • Name: Munoz Ryan, Pam
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: The Dreamer
Übersetzung:
  • Name: Anne Braun
Illustrator/-in:
  • Name: Peter Sís
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2014
Verlag: Aladin
ISBN-13: 978-3-8489-2007-5
Seitenzahl: 372
Preis: 16,90 €
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Munoz Ryan, Pam: Der Träumer