Inhalt
Pierre Anthon kommt zu der Erkenntnis: "Nichts bedeutet irgendetwas [...]. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun" (S. 9). Mit diesem Satz steht er von seinem Platz auf und verlässt das Klassenzimmer. Zurück lässt er seine verwirrten MitschülerInnen der 7a. Und Pierre Anthon ist wirklich überzeugt davon, dass es keinen Sinn ergibt, irgendetwas zu tun. So sitzt er, statt zurück in die Schule zu kehren, nun Tag für Tag im Pflaumenbaum vor dem Haus seiner Eltern und bombardiert seine auf der Straße vorbeiziehenden KlassenkameradInnen mit Pflaumen und mit Sätzen, die die Bedeutung des Lebens, ja, ihrer Existenz immer wieder aufs Neue negieren. Wie reagieren Jugendliche der Mittelschicht, die in dem Glauben erzogen wurden, aus ihnen könnte "etwas werden" und damit "jemand werden" (S. 9)? Nachdem sie festgestellt haben, dass Pierre Anthon samt seines Nihilismus' und seiner Überheblichkeit selbst mit den gezieltesten Steinwürfen nicht vom Baum zu kriegen ist, beschließen sie, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Also davon, dass es eben doch etwas gibt, das Bedeutung hat.
Im stillgelegten Sägewerk – schließlich soll kein Erwachsener von ihrem Vorhaben erfahren – bauen Pierre Antons MitschülerInnen einen "Berg aus Bedeutung". So werden ein Fahrrad, eine Kassette der Beatles, Ohrringe, eine Angel, grüne Sandalen und ähnliche Gegenstände aufgetürmt, die ihnen persönlich etwas bedeuten und gleichzeitig entbehrlich sind. Dabei darf niemand selbst entscheiden, was er/sie auf den "Berg aus Bedeutung" legt. Das bestimmen die, die zuvor etwas opfern mussten. Und so beginnt ein Macht- und Rachekampf. Die Sinnsuche, die nun alles überschattet, fordert immer extremere, blutigere und absurdere Opfer: Ein Mädchen muss ihre Unschuld hergeben, einem Hund wird der Kopf abgeschlagen, ein Kindersarg wird ausgegraben und ein Zeigefinger abgeschnitten. Und trotzdem bleibt immer dieses ungute Gefühl, dass es nicht reicht – an Bedeutung. Das sagt ihnen Pierre Anthon dann auch und wäre gut damit beraten gewesen, es nicht getan zu haben.
Kritik
Was muss ein Jugendroman im Jahr 2000 beinhalten, damit er in Dänemark einen Skandal auslöst und vorübergehend als Schullektüre verboten wird? So wie es aussieht einen Plot wie den der dänischen Schriftstellerin Janne Teller in ihrem Roman Nichts. Was im Leben wichtig ist.
Es ist schon erstaunlich, dass ein Buch heutzutage in Westeuropa derart bekämpft werden kann. Nicht wegen brutaler oder sexistischer oder verhetzender Inhalte, sondern nur wegen der Fragen, die es aufwirft. [...] Die Hauptdebatte fand zwischen Lehrern, Bibliothekarinnen und Pädagogen statt, von denen viele meinten, das Buch mute jungen Lesern zu viel zu (Janne Teller im Interview mit Die Zeit).
Dabei zeichnet das Buch keine Bilder, die Jugendliche nicht in anderem Kontext oder in anderen Medien schon gesehen hätten. Es stellt keine Fragen, die sich Jugendliche nicht irgendwann selbst gestellt hätten. Im Gegenteil: Janne Teller zeigt mit einfachen Worten auf, dass der Glaube an eine Welt aus "gemauerte[n], gelb verputzte[n] Häuschen und rote[n] Eigenheime[n] mit Gärten ringsrum" (S. 10) durch die Konfrontation mit der Sinnfrage ins Wanken geraten kann. Und sie macht deutlich, zu was eine Gruppe Menschen imstande ist, die sich krampfhaft an eine ihr zu entgleiten drohende Weltansicht klammert. Dabei erinnert das Motiv der Gruppe Jugendlicher, die sich immer stärker in eine Idee verbeißt, nicht selten an Morton Rhues Roman Die Welle von 1981, der ebenfalls kontrovers diskutiert wurde.
Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Romanen: In Die Welle wird die Ordnung, werden die Gesetze der Welt durch staatliche Hand wiederhergestellt und die VerursacherInnen der Unordnung sanktioniert. Eine moralische Instanz gibt es in Tellers Nichts nicht. Die Ich-Erzählerin Agnes, nun um die 20 Jahre alt, berichtet retrospektiv in einem nüchternen, ja, fast trockenem Ton, was sie und ihre MitschülerInnen erlebt bzw. getan haben. Dabei wird das Geschehene selten kommentiert oder gewertet. Erwachsene, seien es Eltern oder LehrerInnen, spielen kaum eine Rolle. Die Jugendlichen sind ihrer Selbstjustiz schutzlos ausgeliefert. Und so wird der, der die Sinnfrage stellt und ihre Weltansicht im Kern erschüttern will, von ihnen selbst vernichtet. Ist die Ordnung der erzählten Welt damit wiederhergestellt? Hier fordert der Roman eine/n aktive/n LeserIn, der/die sich die Frage selbst beantwortet. So wie er/sie sich während der gesamten Lektüre immer wieder fragen muss: „Was ist mir im Leben wichtig?“ und „Wie würde ich handeln?“.
Obwohl oder gerade weil der Roman Nichts so polarisierte, wurde er ein Jahr nach dem Erscheinen mit dem dänischen Kinderliteraturpreis des Kultusministerium ausgezeichnet. Weitere internationale Preise folgten. Nichts wird nun in vielen Ländern – so auch in Deutschland – im Unterricht behandelt.
Fazit
Nichts wühlt auf und erschüttert. Die Rezipienten werden nicht nur mit dem Gedanken konfrontiert, dass nichts eine Bedeutung haben könnte. Sie müssen auch mit ansehen, wie sich Jugendliche so sehr in eine Idee hineinsteigern, dass irgendwann nicht mehr klar ist, wem sie etwas beweisen wollen – ihrem Mitschüler oder sich selbst. Ja, der Roman provoziert. Er fordert auf, das Leben und Handlungsmotive zu hinterfragen. Deswegen hat er es verdient, gelesen und überall – sei es in der Schule oder am Küchentisch – diskutiert zu werden. Am Schluss muss sich jedoch jede/r selbst die Frage beantworten, was im Leben wichtig ist.
Literatur
Gaschke, Susanne: "Lehrer sagten, dieses Buch ist schädlich" – Interview mit Janne Teller, in: Die Zeit, 5.8.2010, http://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-08/janne-teller/komplettansicht (Zugriff am 6.1.2017)
- Name: Teller, Janne
- Name: Sigrid C. Engeler