Inhalt
Die 19-jährige Everly Hanson (genannt Ever) ist eine Nephilim: Ihre Mutter ist menschlicher Abstammung, während ihr Vater ein Nachfahre von Engeln ist. Die Aufgabe der Halbengel ist es, Menschen vor Dämonen zu schützen und bei einem möglichen Krieg gegen Teufel Luzifer mit Schwert und Engelsfeuer gewappnet zu sein. Aufregend genug, könnte man meinen. Allerdings ist Ever kein gewöhnlicher Halbengel. Vor einem Jahr musste sie einen ihrer besten Freunde töten, um die Welt vor der bösartigen Dämonin Lilith zu retten. Verstoßen von den Erzengeln und mit Ablehnung und Hass von ihren Freunden gestraft, lebt sie nun fernab der himmlischen Gesellschaft inmitten von Menschen – bis ihre Verurteilung aufgrund vermehrter Dämonenangriffe und anderer mysteriöser Geschehnisse aufgehoben wird. Mit gemischten Gefühlen kehrt Ever deshalb zurück in das überirdische Institut, das sie so lange ihr Zuhause genannt hat und in dem alle Nephilim ihrer Stadt leben. Dort muss sie nicht nur erneut ihren verletzten und wütenden Freunden gegenübertreten, sondern auch der von ihr genervten Institutsleiterin Stephanie. Als wäre Ever damit nicht schon genug beschäftigt, tauchen zudem immer mehr Geheimnisse in Bezug auf ihre Mutter auf, welche kurz nach Evers Geburt ums Leben kam. Und während sie versucht, das Rätsel um die Dämonenangriffe zu lösen, entzünden sich auch wieder die Gefühle für ihren Ex-Freund Landon – doch dessen besten Freund Isaac hat sie ja töten müssen…
Kritik
Geschichten, die sich mit Engeln, Nephilim und Dämonen beschäftigen, sind spätestens seit den Chroniken der Unterwelt von Cassandra Clare sehr beliebt unter Fantasy-Begeisterten. Doch Everly. Schattenreich des Himmels ist keineswegs eine einfache Kopie der sechsteiligen Reihe um Jace, Clary und Co. Vivien Sprenger verleiht den Nephilim wieder eine ursprüngliche, biblische Note, wobei die Väter der Halbengel keinesfalls gefallene Gottessöhne und damit Dämonen sind, sondern einfache männliche Engel, die auf der Erde leben. Ebenfalls eher biblisch geprägt ist der bösartige Antagonist Luzifer, der zwar erst am Ende des Buches eine bedeutende Rolle einnimmt, aber trotzdem schon zu Beginn als Widersacher und Teufel erwähnt wird.
Der Roman wird aus sechs unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Während Evers Stimme den größten Teil der Geschichte erzählt, erhalten die Leser auch einen Einblick in das Gefühlsleben und die Ansichten von Evers Freunden Florence und Landon. Dadurch wird verständlicher, warum sie Evers Verhalten ablehnen. Linus, der Botschafter des Instituts, und Stephanie, die Institutsleiterin, zeichnen von Ever und ihren Freunden wiederum ein eher negatives Bild: Durch ihre Augen wirken die jungen Nephilim wie sich selbst überschätzende und eingebildete Kinder. Diese – natürlich ungefilterte und von Vorurteilen geprägte – Sicht bietet jedoch Abwechslung. Bemerkenswert ist hier die Fähigkeit Vivien Sprengers, jede Figur individuell auszugestalten und die Gedanken dieser authentisch darzulegen. So sind die Kapitel aus Evers Sicht stets von einer gewissen Melancholie und Reue durchzogen, während Florences Perspektive beispielsweise einen deutlich unbeschwerteren Unterton vorweist. Linus’ Gedankengänge wiederum sind geprägt von Unzufriedenheit und überspielter Unsicherheit.
Die Geschichte ist leicht verständlich geschrieben und doch an den passenden Stellen mit Bildhaftigkeit versehen, sodass man den Roman in einem Rutsch durchlesen kann. Vor allem aber die Spannung, die über die ganze Handlung hinweg aufgebaut wird, die Geheimnisse, die nach und nach mehr oder weniger gelüftet werden und die actiongeladenen Kampfszenen verleihen dem Text viel Spannung und Dramatik. Hervorzuheben ist hier die Szene, in der das Amulett von Evers Mutter sein wahres Innenleben offenbart. Stimmen fangen an, Ever Warnungen zu geben, bis das Amulett schlussendlich Evers Spiegel zerstört – und das alles mitten in der Nacht, während Ever allein in ihrem Zimmer ist:
Ich fahre zusammen, als hinter mir auf einmal das Fenster auffliegt. Die Vorhänge werden vom frostigen Wind aufgeplustert und einige zarte Schneeflocken wehen herein. Ich erschaudere. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wird von den Windböen gnadenlos mitgerissen und herumgewirbelt. Blätter rauschen mir um die Ohren und der Stoff der Vorhänge schlägt wild um sich. Die Stimmen werden lauter und lauter. ‚Ever… komm zu uns… Hilfe… ahne, was kommt… hüte dich… er kommt.‘ (S.110)
Durch den bildlichen und mitreißenden Schreibstil der Autorin wirkt die Szenerie so echt, dass man dem Klang der mysteriösen Stimmen im eigenen Kopf fast schon nachspüren kann und noch Stunden nach dem Lesen eine Gänsehaut bei jedem kleinsten Geräusch verspürt. Doch auch der romantische Aspekt bleibt nicht außen vor. Während der Leser schnell merkt, dass Landon und Ever wieder auf eine Beziehung zusteuern, entwickelt sich erst nach und nach eine zarte Liebesgeschichte zwischen den beiden Nebenfiguren Florence und Greyson. Besonders diese wird jedoch spannend und amüsant für den Leser gestaltet, da die beiden ein eher ungleiches Paar darstellen, das sich mit viel Sarkasmus und Zynismus gegenseitig herausfordert.
Am überzeugendsten wird dennoch die Protagonistin Ever dargestellt. Durch ihre Selbstlosigkeit, Stärke und Bodenständigkeit repräsentiert Ever genau die Art von Heldin oder junge Frau, die sich New-Adult-Leser für gemütliche Schmökerstunden auf dem Sofa wünschen. Da Ever aber an einigen Stellen durchaus noch sehr jugendlich wirkt, spricht sie auch ein jüngeres Publikum an. Dieses wird sich jedoch vor allem mit Kayla und Florence identifizieren können, die neben Ever und ihrem unerschrockenen Handeln weitaus weniger erwachsen und unerfahren erscheinen.
Fazit
Vivien Sprenger schafft es, mit Ever und ihren Freunden Figuren zu kreieren, die ein hohes Identifikationspotential für Leser zwischen sechzehn bis dreißig Jahren bieten. Mit ihrem Cliffhanger lässt sie die Rezipienten sicherlich ungeduldig auf den Erscheinungstermin des zweiten Teils hoffen.
Zum Interview mit der Autorin Vivien Sprenger gelangen Sie hier.
- Name: Sprenger, Vivien