Inhalt
Die Handlung von Herbert Günthers neuem Roman Der Widerspruch ist im Jahr 1963 in einer norddeutschen Kleinstadt angesiedelt und multiperspektivisch erzählt. Zu Wort kommen als wechselnde Ich-Erzähler vor allem die jugendlichen Schüler Reni, Robert, Jonas und Britta. Sie alle besuchen eine Realschule und engagieren sich aktiv in der Schülerzeitung, erproben hier Demokratie und hinterfragen die Rolle ihrer Eltern in der NS-Zeit. Als der Schuldirektor den Schüler-Redakteuren Geld anbietet, um aus der Zeitung eine Art Aktiengesellschaft zu machen, kommt es zum Eklat. Britta, die mit ihren Eltern kurz vor dem Mauerbau aus der DDR übergesiedelt ist, bezichtigt den Rektor der Zensur und wirft ihm diktatorisches Verhalten vor. Daraufhin entzieht er ihr den Posten der Chef-Redakteurin, schlussendlich muss Britta die Schule verlassen.
Alle Jugendlichen kämpfen mit ihrem Schicksal und ringen mit dem politischen Erbe der Elterngeneration. Jonas’ Mutter unternimmt mehrere Selbstmordversuche, der Vater wurde kurz vor Kriegsende hingerichtet, weil er desertiert war. Dessen Bruder, Jonas’ Onkel Eduard, seines Zeichens Bankdirektor, wird bezichtigt, aktiver Nationalsozialist gewesen zu sein und ist nicht frei von dem Verdacht, den Bruder verraten zu haben.
Zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte wird für alle Protagonisten Renis Beziehung zu einem linksextremen Jura-Studenten, der die Schülerin schamlos ausnutzt. In großer Verliebtheit lässt sich Reni auf wöchentliche Besuche bei Fritz Kolbe ein, der von Liebe nichts wissen will, dafür regelmäßig mit dem Mädchen ins Bett geht und von ihr verlangt, den Abwasch zu machen. Als Reni schließlich dahinterkommt, dass Fritz, einziger Sohn des Oberlandesgerichtsrats, auch noch eine andere Freundin hat, ist sie am Boden zerstört und vertraut sich Jonas an. Am Ende begeht der linksradikale Fritz einen Anschlag auf die Villa von Bankdirektor Onkel Eduard. Aufgrund der Verbindung zu Reni wissen die Freunde sofort, wer dahintersteckt, doch für den Polizeiermittler Johannes Lembeck, aus dessen Perspektive der Schluss erzählt wird, ist es nicht leicht. Denn der Vater des Anschlägers ist mit dem Polizeichef befreundet...
Kritik
Herbert Günther, der sich bereits mit zeitgeschichtlichen Jugendromanen wie Zeit der großen Worte einen Namen gemacht hat, legt mit Der Widerspruch ein brisantes Zeit-Panorama vor, in dem er authentisch die Nachkriegszeit in der BRD in den Blick nimmt. Die Authentizität verwundert nicht, bedenkt man den Umstand, dass Günther hier von der eigenen Jugendzeit erzählt. Der Autor wurde 1947 geboren und feierte im letzten Jahr seinen 70. Geburtstag. Ein Grund für eine jugendliterarische Rückschau?! Autobiographische Bezüge sind aber nur zu vermuten, die Handlung, die sich an der Grenze zum Kriminalroman bewegt, ist rein fiktional, erfährt aber eine genaue historische Einordnung: Der Roman gliedert sich in vier Teile, den Jahreszeiten entsprechend, vorangestellt ist jedem Abschnitt ein mit "Zeitungssplitter" betiteltes Kapitel, in dem aktuelle Nachrichten aus der erzählten Zeit referiert werden: "Im Januar 1963 liegt Deutschland unter einer tiefen Schneedecke. Flüsse und Seen sind zugefroren. Eis und Schnee behindern den Straßenverkehr." (S. 7) oder "Bundeskanzler Konrad Adenauer feiert seinen 87. Geburtstag. Seine Gespräche mit dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle im Januar 1963 ebnen den Weg zu einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der EWG" (S. 8). Entnommen sind alle Angaben aus dem Göttinger Tageblatt 1963/1968, so verrät es ein Hinweis im Paratext. Dadurch weist der Text einen gewissen Archivcharakter auf.
Interessant an der Erzählweise des Romans ist vor allem die multiperspektivische Anlage, durch die ein vielstimmiger Blick auf die erzählten Ereignisse geworfen wird. Somit entgeht der Roman einer eindimensionalen Sichtweise, wobei bedauerlich ist, dass Renis Liebhaber Fritz Kolbe, der Züge eines Antagonisten trägt, nicht selbst zu Wort kommt. Gerade seine Perspektive wäre interessant gewesen und hätte klären können, warum er so lieblos mit Reni umgeht und was genau ihn zu dem Anschlag auf die Villa motiviert hat. Die Konzeption des Linksradikalen erscheint ohne den Blick ins Innere dieser Figur ein wenig stereotyp:
"'Na, Reni', sagt Fritz mit Schmeichelstimme, wie zu einem Kleinkind. 'Was hast du denn auf den Herzen? Es ist doch nicht Mittwoch.'
Ich schnappe nach Luft. 'So ist das also', bringe ich endlich heraus. Fritz grinst: 'Was hast du erwartet?' 'Was ich...?' 'Oh, du bist so gemein! So gemein! Die Welt willst du verbessern, aber du denkst nur an dich, nur an dich!' Das scheint ihn immerhin zu interessieren. Das Grinsen verschwindet aus seinem Gesicht, nicht aber die Überheblichkeit.
'Schätzchen', sagt er. 'Über Eifersucht sind wir doch hinweg. Ich dachte, du hast deine kleinbürgerliche Moral hinter dir gelassen. Wolltest dich befreien aus dem Mief. Habe ich mich wohl geirrt'" (S. 150)
Herbert Günther eröffnet mit Der Widerspruch insgesamt eine kinder-und jugendliterarisch noch nicht breit erschlossene Epoche deutscher Zeitgeschichte. Mehrheitlich fokussieren die Titel die NS-Zeit oder den Mauerfall und das Leben in der DDR. Die BRD im Zeichen der 68er-Generation stand bislang eher sporadisch im Zentrum der KJL, wobei das "Jubiläumsjahr" 2018 einiges erwarten lässt.
Fazit
Ein lesenswerter jugendliterarischer Beitrag zur Erinnerungskultur über die Bundesrepublik der 1960er Jahre, das archivierende Authentizität mit der Spannung eines Kriminalromans verbindet und sich einer multiperspektivischen Erzählweise bedient. Jugendliche ab 16 Jahren, die sich für ein solches Zeit-Panorama interessieren, werden den Roman mit Gewinn lesen, Erwachsene ebenso.
- Name: Günther, Herbert