Inhalt

Stinksauer landet Punk-Girl Poe Holly in Benders Hollow, einer makellosen Klein- und Weinstadt in Kalifornien, wo sie auf ihren Dad, den Psychologen ihrer neuen Highschool, trifft. Er trägt zwar keine 500-Dollar-Klamotten wie ihre Mom, eine Chirurgin, die lieber im südamerikanischen Dschungel Leben rettet – aber wie kann er ihr Dad sein, wenn sie sechzehn Jahre ohne ihn leben musste? Aus Angst hielt er sich aus allem heraus, für Poe ist er wie eine Lampe, die den Schalter umlegt, wenn es brenzlig wird. Dagegen empfindet sie ihre Mom als Diktatorin, die nur ihre Karriere im Sinn hat. Von ihrer neuen Schule, der Benders High, ist die Sängerin ebenfalls vom ersten Tag an genervt:

Die Hässlichen, die Fetten, die Trottel, die Heulsusen, die Zukurzgeratenen, die Unterschichtler und diejenigen, die einfach total schräg waren, vermischten sich mit den Normalos, die zwar keinen blassen Schimmer davon hatten, wie es sich anfühlte, ein Ausgestoßener zu sein, die aber aus irgendwelchen humanitären Gründen dennoch dabei waren. Und jedem Einzelnen stand sein persönliches 'Rangzeichen' ins Gesicht geschrieben: die unterwürfigen, verzweifelten, schüchternen, ängstlichen, unzufriedenen, niedergeschlagenen, gequälten, ausgehungerten Mienen von Leuten, die schlicht und ergreifend nirgendwo dazugehörten. Nicht einmal zueinander […] Sie erinnerten mich an Schafe, die auf einer DDT bestrichenen Wiese grasten, ohne zu kapieren, dass das, was sie nährte, gleichzeitig das war, was sie tötete […] Damit es die Starken gab, musste es die Schwachen geben, und ich war mir nicht sicher, ob ich sie oder vielmehr die Welt dafür hasste. (S. 223f.)

Die Bildung und Bevorzugung von bestimmten Cliquen stößt Poe auf, auch wenn der stellvertretende Direktor vorgibt, dass alle Schüler gleich behandelt werden. Im Sport boykottiert sie die Kleidervorschriften, die nur für die Footballstars und Cheerleaders der Schule nicht zu gelten scheinen. Dem Schulchor wirft die Sex-Pistols-Anhängerin Vorurteile und Bevorteilung vor. Sie meint, aufgrund ihres Punkoutfits und ihrer fehlenden Gesangsausbildung nur in der zweiten Chorreihe stehen zu dürfen, obwohl die Chorleiterin um Poes unglaublich kraftvolle Singstimme und ihre Erfahrung als Frontsängerin weiß. Noch weit größere Wut provoziert in Poe die Behandlung ihres Nachbarn und Kumpels Andrew, alias Velveeta, der dazu geboren scheint, schikaniert und misshandelt zu werden. Velveeta wird jedes Mal blutig geschlagen, dennoch sieht er die Konfrontationen mit dem Champion der Footballmannschaft Colby Morris und seinen Anhängern als Jungskram und Spaß an. Selbst Lehrer schauen weg, als Colby im Sportunterricht Velveeta brutal zu Fall bringt und das gesamte Footballteam ihn auf der Schultoilette verprügelt. Als Tage später das neue Auto von Colby zertrümmert wird, droht Velveeta der Tod, egal ob dieser der Täter ist oder nicht. Poe kann das nicht zulassen und ersinnt einen riskanten Plan:

Ich kam mir vor wie eine sadistische Kupplerin aus der Hölle, aber diese Aktion musste einfach gelingen. Ich musste das Spiel mitspielen. Ich musste dem Ganzen unbedingt ein Ende bereiten und Benders Hollow und der Benders Highschool zeigen, dass sich Unrecht nicht einfach in Luft auflöst, indem man es ignoriert. Ich würde es ihnen um die Ohren hauen, wie meine Mom es getan hätte, aber ich würde mich innerhalb der Regeln bewegen, die mein Dad so sehr schätzte. Nur, dass es gefährlich war. Sogar sehr gefährlich. (S. 271)

Kritik

Die Fuck-the-World-Einstellung der Ich-Erzählerin Poe umfasst ihren verantwortungsscheuen Vater, ihre geltungshungrige Mutter, das blankgeputzte Benders Hollow und die neue Highschool, an der der stellvertretende Direktor Konformismus predigt, aber Cliquenwirtschaft herrscht. Andererseits will das Mädchen mit ihrem Aufbegehren ihren scheinbar unbeteiligten und diskussionsscheuen Vater und 'Psychofritzen' aus der Reserve locken, was ihr durch Intelligenz und Wortgewandtheit gelingt. In dieser Hinsicht ergänzt sie sich mit ihrem Freund Theo, Bürgermeistersohn und Schlagzeuger, der sich selbst sowie die gesamte Gesellschaft mit intelligentem Humor auf die Schippe zu nehmen weiß, aber nicht den Mut hat, konkret gegen Unrecht aufzubegehren.

Eher ratlos sind Protagonisten sowie Leser bei Velveeta: Der Prügelknabe der Schule, der Kautabak kaut, überall ausspuckt, sprachlich eher unkultiviert auftritt und bisher als Eigenbrötler bekannt war, wird regelmäßig zusammengeschlagen. Poe empfindet ihn als liebvollen Trottel, der bei seiner Tante wohnt, da seine Eltern ums Leben gekommen sind. Es lässt sie vor Wut kochen, dass die Gesellschaft, wie naturgegeben, ihre Mitglieder allein schon aufgrund ihrer Gewohnheiten und ihres Aussehens auf Plätze verweist. Doch eine demokratische Gesellschaft sollte – gleich welcher Nation – weder das Recht, noch die Pflicht dazu haben, es sei denn, das Gemeinwohl wird bedroht. Deshalb muss Poe gegen die Gewalt, die dem Sonderling Velveeta angetan wird, etwas unternehmen, denn verantwortliche Erwachsene – Lehrer, Schulleiter, Psychologe, polizeilicher Ermittler – stellen Mobbing und Misshandlung an der Schule infrage oder ignorieren, was mit Velveeta geschehen ist bzw. geschehen wird. Aus den 32 Kapiteln und dem Epilog des Romans lassen sich keine eindeutigen Motive für das Mobbing von Velveeta herauskristallisieren. Allein die Romangesamtschau lässt vermuten, dass sein Aussehen und Verhalten in Colby und Co. Hass hervorrufen. Die Figur des Colby wird zu wenig beleuchtet, um sein Verhalten nachvollziehen zu können. Einsichtig ist, dass Colby weiß, dass sich niemand gegen seine Aggressionen aufzulehnen wagt, auch, weil sein Vater eine hohe Stellung im Justizapparat besetzt. Eher regen die unausgesprochenen Motive für Mobbing den Leser an, über das Warum nachzudenken. Letztlich ist es Velveeta, der sich erst dann gegen seinen Peiniger wehrt, als bei Poe Blut fließt. Obwohl Psychopath Colby seiner Schandtaten überführt wird, sind sich die Schüler sicher, dass der Sohn des Bezirksgefängnisleiters, Footballstar der Schule und Collegestipendiat weiterhin im Schoße der Gesellschaft gewiegt werden wird. Der Autor greift hier eine Problematik auf, die nicht nur Jugendliche der außerfiktionalen Welt zu gut kennen, nämlich nicht nach Leistungen und moralischen Einstellungen beurteilt zu werden, sondern nach Herkunft und vor allem nach dem Äußeren.

Die Protagonisten aus Schandtat vereinen Intelligenz mit teilweise sehr schonungsloser Sprache, die sie nicht nur gegenüber Teenagern verwenden, sondern auch gegenüber Autoritäten. So z. B. äußert Poe bei der einberufenen Anti-Schikane-Veranstaltung an ihrer Schule:

'[…] der einzige Grund, warum wir in diesem Raum sind, ist der, dass sich die Benders Highschool von einer Haftungsklage bedroht sieht, die den Namen Velveeta trägt, und das müsst ihr [= Direktor, Lehrer und Psychologe der Schule] schleunigst unter Kontrolle bringen. […] Der wahre Grund, warum ihr euch überhaupt mit diesem Thema beschäftigt. […] Colby Morris und all die anderen Superstars im Jungenklo, die beobachtet haben, wie Velveeta getreten wurde, machen weiter wie bisher. Aber wir sitzen hier und hören uns einen Haufen Schwachsinn von 'nem Typen [= Geschichtslehrer] an, der offenbar glaubt, die Probleme der Welt ließen sich lösen, wenn wir alle nur genau gleich wären.' (S. 234)

'Ich habe mit angesehen, wie ein Junge in Ihrer Schule [bezogen auf Lehrpersonal] fast getötet wurde, weil der Typ, der es getan hat, ganz genau weiß, dass Sie nichts gegen ihn unternehmen werden. Wirklich gut gemacht. Sie sind einfach nur Scheiße' […]. (S. 238)

Ebenso authentisch und überzeugend kommen Gedanken zu schulischen Situationen und zur Gesellschaft zum Ausdruck. Witzige Sprachkonstruktionen und Dialoge mildern nicht den Ernst der Sache.

Der Autor zeichnet Poe selbst als Klischee: Sie ist die unangepasste, provozierende Punkrockerin aus der hippen Megalopole L.A., in der das kulturelle Leben vielfältig pulsiert und die Entfaltung der eigenen Freiheit großgeschrieben wird. Durch ihre Eigenbeschreibung als Punk-Girl erwartet der Leser geradezu, dass sie das unauffällige, konfliktausweichende Benders Hollow (to bend: (ver-)biegen; hollow: leer, schal), die Kontrolle der Schüler durch ihre Schülerausweise und die Zelebration der Footballmannschaft anödet bzw. dass sie dagegen aufbegehrt. Etwas überraschender und weniger selbstverständlich hätte ein/e Protagonist/in gewirkt, der/dem das Provozieren und Aufbegehren nicht von Beginn an so offensichtlich als Lebenseinstellung und gesellschaftliches Statement anhaftet, die/der aber trotzdem gegen Ungerechtigkeit vorgeht und konkret handelt.

Das Coverbild der englischen Originalausgabe (Ersterscheinung 2009), das unter dem Titel BRUTAL ein makelloses Haus auf grüner Wiese vor blauem Horizont zeigt, weckt mehr Interesse und verdeutlicht bildlich jene Spannung, die in Poe herrscht und sich in der Erzählung entlädt. Das deutsche Cover wirkt dagegen weniger passend.

Fazit

Mit Schandtat fokussiert der US-amerikanische Autor Michael Harmon eine Problematik, die nicht nur an (US-amerikanischen) Schulen, sondern gesamtgesellschaftlich aktueller denn je ist: Verleumdungen, Demütigungen, Diskriminierungen und Gewaltanwendungen gleich welcher Art, im Kleinen wie im Großen, dürfen nicht verharmlost, weggeschwiegen oder ignoriert werden. Der Roman vermittelt deutlich, dass darüber offen diskutiert und adäquat damit umgegangen werden muss, will man fatale Eskalationen vermeiden. Neben der erzählerischen Darstellung der Thematik überzeugen vor allem die witzigen und wortgewaltigen Dialoge, die Poe mit Freunden, Eltern und anderen Erwachsenen führt. Aufgrund einiger Kraftausdrücke und Gewaltbeschreibungen wird das Jugendbuch ab sechzehn Jahren empfohlen.

Titel: Schandtat
Autor/-in:
  • Name: Harmon, Michael
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: Brutal
Übersetzung:
  • Name: Michaela Link
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2010
Verlag: cbt-Verlag
ISBN-13: 978-3-570-30653-6
Seitenzahl: 288
Preis: 7,95€
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Harmon, Michael: Schandtat