Inhalt
Mimi und Oliver wachsen in den grauen, halb zerfallenen Häusern einer tristen ostdeutschen Havelstadt auf, die ihre besten Zeiten als Ziegelei-Zentrum längst hinter sich hat. Die beiden Nachbarskinder sind oft zusammen, verstehen sich gut, wenngleich eher wortlos. Und wenn, wie so oft, die Erwachsenen feiern, dann stibitzen sie händeweise Schnapskirschen, bis sie besoffen am Tisch sitzen. Das Verhältnis zu den Eltern ist kaum herzlich. Mimis Mutter macht Karriere als Pionierleiterin und kommunistische Vorzeigelehrerin, ihr Vater ist Diabetiker, riecht nach Bier und Zigaretten und versäumt niemals den allsonntäglichen Männerfrühschoppen mit seinen Trinkkumpanen in der gegenüberliegenden Kneipe. Oliver muss sich gegen seinen brutal prügelnden Vater behaupten, seine Mutter weist hingegen erste Anzeichen von Demenz auf. Die Schule wird zunehmend ein Ort zum Fürchten (S. 57): Die Lehrer sind linientreu, aber zumeist rigoros autoritär. Eher fragwürdige Höhepunkte während der Schulzeit sind die Fahnenappelle der Jungpioniere, die Trainingslager und Sportfeste "für Frieden und Sozialismus", die "Rote Hilfe Pionier"-Ausbildung, die Russisch-Olympiade in der russischen Kaserne, die Jugendweihe im vierzigsten Jahr des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik. Teils exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum ist bei Alten wie Jungen an der Tagesordnung. Mit dem Zerfall der DDR brechen auch die gewohnten Strukturen auseinander. Massenhafter Arbeitsplatz- und Werteverlust schürt in der Bevölkerung Frust und Wut, die in Brandstiftung und Ausländerhass ein vermeintliches Ventil finden. Oliver, den sie jetzt Hitler nennen, wird zum Agitator und Anführer einer brutalen Prügelgang, die rechtsradikale Parolen brüllt, Hakenkreuze schmiert, Jagd auf Ausländer macht und auch vor Mord nicht zurückschreckt. Mimi versucht, dem zunehmenden Chaos und der sinnlosen, auch sie immer wieder bedrohenden Gewalt zu entkommen; sie flüchtet nach Berlin, aber hält es in der Anonymität und Tristesse der Plattenbauten von Marzahn auch nicht lange aus. Ein Job als Redakteurin bringt zumindest für kurze Zeit Befriedigung und ein bisschen Anerkennung. Sie hält sporadischen Kontakt zu Klassenkameraden und Freunden aus der Schulzeit: Gemeinsam versuchen sie, die neuen Freiheiten und die gesellschaftlichen Veränderungen zu bewältigen – mit mehr oder weniger Erfolg. Und unterschwellig scheint da noch immer die Verbindung zu Oliver zu existieren…
Kritik
Der zweifellos stark autobiografisch gefärbte, wortgewaltige Debütroman von Manja Präkels vermittelt aus der Perspektive der heranwachsenden Ich-Erzählerin Mimi einen gewiss subjektiven, aber gerade deshalb so packenden Einblick in die Verhältnisse der Vor- und Nachwendezeiten einer wenig anheimelnden ostdeutschen Provinzstadt. Wenngleich zwischen den Zeilen auch immer die emotionale, fast schon nostalgische Bindung zu einer Art verlorener Heimatidylle mit zumindest nach außen hin geordneten Strukturen zum Ausdruck kommt, ist Präkels mit ihrer unverklärten analytischen Beobachtungsweise schonungslos direkt und radikal, aber immer wieder auch humorvoll und nicht selten satirisch überzeichnend in der Beschreibung der sozialen und politischen Verhältnisse Ostdeutschlands vor und nach der Wende.
In meiner Erinnerung verschmelzen all die Kneipen zu einer einzigen. Eine verrauchte Wartehalle ist das, mit vergilbten Tapeten und blinden Fenstern, Toiletten übern Hof, alles wirkt wie in Staub gefallen und vorbei. Ein trauriger Ort, an dem alle Sehnsüchte nach dem Eintreten rechts neben der Tür wie Schirme an Kleiderhaken gehängt und meist vergessen werden. (S. 83)
Solche Äußerungen mögen auf den ersten Blick allzu sehr gängigen "Ossi"-Stereotypen entsprechen, aber die detaillierte und kenntnisreiche Darlegung macht deren Inhalt zweifellos glaubhaft und nachvollziehbar. Dennoch enthält sich die Autorin jeder banalen Pauschalierung oder gar Abwertung: Es bleibt den Lesenden überlassen, für die Faktenlage eigene Einschätzungen vorzunehmen – die allerdings nicht selten offen auf der Hand zu liegen scheinen. Etwa bei solch ausdrucksintensiven Schilderungen wie:
Wie Schimmelpilz in den Kellerritzen hatte sich die Wut erst im Haus, dann auf der Straße verbreitet und beherrschte schließlich die ganze Stadt… Unbemerkt hatte sie jahrelang unterm Pflaster gehockt, unter maroden Dielen, in der Kanalisation, auf den Dachböden und hinter verblichenen Fotografien. (S. 57)
Kontrastierend, geradezu grotesk und verlogen anmutend dagegen die wenige Seiten später zitierten Sätze aus dem FDJ-Jugendweihe-Gelöbnis:
...in unserem ganzen Land wird das humanistische und revolutionäre Erbe bewahrt und fortgesetzt. Wir lernen aus den Kämpfen der Arbeiterbewegung, der Antifaschisten und aller fortschrittlichen Kräfte der deutschen Geschichte. Die Kenntnis und Lehren der Geschichte vermitteln uns Kraft und Optimismus für die Lösung der heutigen und zukünftigen Aufgaben... (S. 60)
Die aus westdeutscher Sicht reichlich rückständigen Verhältnisse in der vom Verfall bedrohten Havelstadt mögen aus Mimis Sicht alles andere als angenehm empfunden werden. Jedoch wird auch die Einheit mit ihren Folgen (Arbeitslosigkeit, radikale Werteveränderung, massiver Einfluss westlicher "Goldgräber") zum traumatischen Erlebnis. Beispielsweise beim erstmaligen West-Besuch, bei dem sie sich angesichts eines bislang unvorstellbaren Überangebots in den Geschäften absolut überfordert und verunsichert fühlt. Die Radikalisierung marodierender, zumeist alkoholisierter Jugendbanden, die Nazi-Parolen grölen und Häuser abfackeln, dabei jede Form von Autorität - außer jener in den eigenen Reihen – ablehnen, schildert Präkels nahezu unkommentiert. Sie setzt aber die andauernde Flucht, die Phasen von Magersucht und den ebenfalls hohen Alkoholkonsum der Protagonistin und den Selbstmord von Freunden dagegen. Damit verdeutlicht sie die eher hilflosen Versuche, die allseitig als extrem einschneidend empfundenen, abrupten Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Jugendkultur in Ostdeutschland irgendwie zu bewältigen.
Für junge Lesende aus dem "heilen" Westen mag das Eintauchen in die Welt protestierender Ost-Jugendlicher generell nicht besonders problematisch erscheinen: Jugendproteste sind systemunabhängig. Allerdings fehlt vermutlich bisweilen die Kenntnis typischer DDR-Nomenklatur: Thälmann-Pioniere, HO-Läden, Fahnenappell, FDJ und VEB sind Vokabeln, deren tiefere gesellschaftliche Bedeutung nur ansatzweise aus dem Textzusammenhang ersichtlich wird. Präkels' Roman bietet eine sehr kenntnisreiche Zustandsbeschreibung, aber nicht zwingend eine Erklärung der derzeitigen Lage in Ostdeutschland. Dennoch kann die eindrückliche Schilderung ostdeutscher (sich krass von westlichen unterscheidender) Verhältnisse sowohl für jugendliche wie auch für erwachsene Leser - bei denen wohl eher selten genauere Kenntnisse über diese jüngste Vergangenheit als gegeben vorausgesetzt werden können - durchaus hilfreich sein bei der Bewertung der auch fast drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch bestehenden Differenzen zwischen Ost und West. Es sei jedoch dahingestellt, ob sich daraus auch so etwas wie ein Verständnis entwickeln lässt. Präkels verteidigt keineswegs die gewalttätigen Aktionen der Neonazis, aber sie verleugnet auch nicht die grundsätzliche Zuneigung zu ihrem Herkunftsland.
Fazit
Manja Präkels' Erstlingsroman ist zweifellos starke Kost, verstörend und provokant. Zugleich aber ist es eine faszinierende Geschichtsbeschreibung, die direkt hineinreicht in die Gegenwart. Als ausgesprochen spannende, indes ungeachtet vieler unterschwellig witziger Passagen keineswegs als unterhaltsam zu bezeichnende Lektüre ist sie nicht nur für Jugendliche ab 16 Jahren, sondern gleichermaßen für erwachsene Lesende, die vielleicht irritiert sind von den als bedrohlich empfundenen Entwicklungen in Ostdeutschland, dringend zu empfehlen. Das Buch bietet sich ebenfalls für eine lebensnahe Behandlung des Sujets Deutsche Gegenwartspolitik im Oberstufenunterricht an. Die Auszeichnung mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 ist gerechtfertigt und sehr zu begrüßen.
- Name: Präkels, Manja