Inhalt
Der Roman beginnt mit folgender Ausgangssituation: Hyde ist abgebrannt und Katrina schlägt sich mit achtzehn Jahren alleine durchs Leben. Nachdem sie zunächst in einem Club bei einem ausbeuterischen und sexistischen Arbeitgeber Geld verdienen wollte, stiehlt sie dessen Auto und flieht in einen Wald. Dort wird Katrina auf das verlassene und heruntergekommene Anwesen Haus Waldkauz aufmerksam, in dem sie sich häuslich niederlässt. Sie bewirbt sich als Verwalterin, möchte das Gebäude nicht nur bewohnen, sondern auch wieder instand setzen.
Alleine in dem großen Haus versorgt sie eine verletzte Katze. Zusehends erinnert sich Katrina dabei an ihre Vergangenheit, denkt oft an kleine Abenteuer, die sie mit Zoe und ihrem treu sorgenden "Vater" erlebt hat. Er bringt ihnen unter anderem bei, wie sie sich vor Gefahren der Wildnis wappnen. Aufkommende beklemmende Erinnerungen an die sogenannte "Gefangenschaft" im weißen Zimmer, das sich als Patientenzimmer entpuppt, machen ihr klar, dass Hyde durch Brandstiftung vernichtet worden ist und ihr "Vater" und ihre Schwester ums Leben gekommen sind. Sie entsinnt sich an die Zeit, in der sie bei ihrer Mutter Gloria und deren Mann Malte gelebt hat, zu denen sie ein distanziertes Verhältnis pflegt.
Allmählich setzt sie das Bild ihrer Vorgeschichte zusammen: Während Katrina die Zusammenhänge sinnvoll einordnet und erfährt, warum sie zwölf Jahre mit ihrer Schwester in Hyde gelebt hat, nehmen rätselhafte Begebenheiten wie unerklärliche Geräusche auf dem Dach des Hauses zu, obgleich keine Menschen auszumachen sind. Es scheint so, als habe das Haus ein Eigenleben. Sie stößt auf Zeitungsartikel aus den vergangenen fünfzig Jahren, in denen Menschen, die das Haus umbauen wollten, auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen sind. Katrina aber möchte mehr wissen und erlebt eine unerwartete Begegnung.
Kritik
Antje Wagner lässt die mysteriöse Geschichte von Katrina in zwei verschiedenen Handlungssträngen spielen: Zum einen erzählt die Ich-Erzählerin Katrina das Geschehen in der Gegenwart, zum anderen schildert sie in Rückblenden Episoden aus ihrer Kindheit und Jugend, in denen vor allem ihr vermeintlicher Vater und ihre Schwester Zoe im Mittelpunkt stehen und die ihre tragische Vorgeschichte entfalten. Eine besondere literarische Stärke ist, dass die Erinnerungen oft durch ein Detail, wie zum Beispiel durch einen bestimmten Geruch, motiviert sind. Vergessenes und Verdrängtes drängen an die Oberfläche. Die Fokalisierung durch Katrina, die angesichts ihrer beschränkten Erinnerungsleistung als unzuverlässige Erzählerin zu klassifizieren ist, erhalten die Leserinnen und Leser erst am Ende ein umfassendes Bild ihrer gesamten Geschichte.
Der Beginn des Jugendromans ist sehr flüssig zu lesen, da er weitgehend chronologisch erzählt ist. Und doch fragt man sich als Leser oder Leserin, warum Katrina auf sich alleine gestellt ist, wo ihre Familie steckt und was mit Hyde geschehen ist. Der Grad der Irritation erreicht spätestens ab der ersten Hälfte des Romans eine neue Dimension, als eine nicht näher kommentierte Erinnerung an das sogenannte weiße Zimmer in elliptischen Sätzen geschildert wird, was den fragmentarischen Charakter ihrer Erinnerung unterstreicht: "Links war ein Fenster. Erschütternd sauber. Glattweißer Rahmen. Keine Gardinen. Dahinter war Juni. Ich wollte dorthin" (S. 210). Der Roman bekommt durch einen deutlich rascheren Wechsel der beiden Handlungsstränge eine Dynamik, die die Spannung bis zum Ende steigert, aber gleichzeitig die Lektüre durch die ständigen Zeit- und Ortswechsel anspruchsvoll macht. Begünstigt wird diese Spannung durch die stets eindrücklich geschilderte Atmosphäre, mit der die Autorin Räume wie etwa den Wald beschreibt. Dadurch dass Katrina sehr naturverbunden ist, weiß sie sich in der Wildnis zurecht zu finden.
"Wir spürten ihn [den Wald], kannten die anderen Glieder und Organe genau. Wir kannten die Routen der Wildschweine, die den Wald wie ein Aderngeflecht durchzogen; wir hörten ihre Schritte, konnten sie von denen anderer Tiere unterscheiden" (S. 109).
Der Wald ist in erster Linie kein dunkler, verlassener Ort, sondern etwas Geheimnisvolles, wie der "Vater" den beiden Schwestern Wald anhand der Novelle von Dr. Jekyll und Mr. Hyde erzählt.
Nicht nur die Vorgeschichte lebt von der beklemmenden Atmosphäre, sondern vor allem die Szenen im Haus Waldkauz, die aufgrund der nicht-erklärlichen Begebenheiten teilweise gar gespenstisch anmuten:
"Vielleicht schlich jemand nachts um das Haus und… reparierte es? Im schmelzenden Schnee auf dem Grundstück waren keine Fußspuren auszumachen. Wie konnte jemand hier heimlich arbeiten und dann noch nicht einmal eine Spur hinterlassen?" (S. 350)
Verstörend ist überdies die verschwörerische Stimmung: Katrina hat ihre engsten Vertrauten verloren und vertraut sonst niemandem mehr, auch nicht ihrer Mutter, von der sie sich losgelöst hat. Unter diesen Umständen gelingt es Antje Wagner, eine sehr charakterstarke und ungewöhnliche Frauenfigur zu zeichnen, die sich trotz ihrer seelischen Schäden völlig alleine neuen Herausforderungen stellt, wie etwa den unerklärlichen Vorkommnissen im mysteriösen Haus Waldkauz. So springt auf Seite 368 der Begriff Parapsychologie ins Auge. Dieser verleiht dem gegenwärtigen Handlungsstrang eine parapsychologische Note und macht vor dem Hintergrund des intertextuellen Verweises auf die ebenfalls als parapsychologisch anmutende Geschichte der Novelle Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson, plausibel.
Fazit
Der rasante Wechsel zweier Zeitebenen sowie die unheimliche Atmosphäre und Spannung machen den Jugendroman zu einer abwechslungsreichen, aber auch anspruchsvollen Lektüre, die vor allem Leseerfahrenen zu empfehlen ist. Angesichts des Alters der Protagonistin als achtzehnjährige Identifikationsfigur, ihrer verstörenden Familienvergangenheit und den gruseligen Begebenheiten im Haus Waldkauz ist der Roman ab einem Alter von 16 Jahren zu empfehlen.
- Name: Wagner, Antje