Inhalt

Heute, am 3. Juli, hat I seinen 10. Geburtstag. Doch im Lager weiß niemand sonst davon. Hier zählt nur das, was in den Papieren steht. Aber die wurden ihm samt Geld und allem Gepäck gestohlen. Dass auch seine Eltern nicht mehr da sind, daran mag er jetzt nicht denken. Geglaubt wird ihm von alledem jedoch nur, was sich schwarz auf weiß beweisen lässt. Zur Feier des Tages gibt es für I und seine drei Freunde im Lager dennoch etwas Besonderes, fast schon ein "Festmahl" – nämlich ein paar Apfelstrünke, die von den Wachen weggeworfen wurden. Ihre Zeit vertreiben sich die Kinder damit, auf der Müllhalde nach noch Essbarem zu suchen, sofern sie – was häufig der Fall ist – im Gedränge der unregelmäßigen Hilfslieferungen von Lebensmitteln leer ausgehen. Oder sie spielen mit noch halbwegs heilen Plastikfigürchen, die sie ebenfalls im Abfall gefunden haben, kleine Szenen nach, immer darauf bedacht, bei den Wachmännern möglichst nicht aufzufallen. Die schönsten Momente gibt es jedoch beim Betrachten der zwei oder drei längst schon zerknitterten Familienfotos, mittels derer man sich ein wenig an vergangene Zeiten erinnern kann. Über allem steht der Wunsch danach, eine wirkliche Familie und eine dauerhafte Bleibe zu finden, doch dann wird das Camp mit Bulldozern niedergewalzt. Fraglich, ob die als neuer Aufenthaltsort vorgesehenen Metallcontainer wirklich menschenwürdiger sind...

Kritik

In Steve Tasanes Junge ohne Namen berichtet der 10-jährige Ich-Erzähler vom Alltag in einem Flüchtlingscamp. Wo genau sich dieses befindet, das geht aus dem Text nicht hervor; man darf es wohl als stellvertretend für die vielen Flüchtlingscamps irgendwo in der westlichen Welt betrachten. Ohne Larmoyanz resümiert I, was er aus Kindersicht wahrnimmt und erlebt. Dass er im Präsens erzählt, intensiviert die Handlung, verweist aber zugleich auf die Notwendigkeit, den Fokus in erster Linie auf die Bewältigung der menschenunwürdigen Gegenwartssituation im Camp zu richten. Die verzweifelten, allenfalls mäßig erfolgreichen Versuche, die eigene Vergangenheit nicht gänzlich zu vergessen, aber auch Zukunftsträume von Freiheit, Selbstbestimmung und einer Geborgenheit in einer neuen Familie bleiben indes nicht außer Acht.

Manchmal schlafe ich hungrig ein, und manchmal schlafe ich nicht ganz so hungrig ein. Ich träume von Schokoladenkuchen, von frisch gebackenem Brot, von Oliven und Zitronen, von Orangen und von Brathühnchen bei Feiern und Picknicks, dann sind meine Mutter und mein Vater da, meine Schwestern und Brüder, meine Tanten und Onkel, alle lachen und scherzen, und wir sind pappsatt. (S. 92)

Tasane, selbst Sohn eines Flüchtlings, verweist im Nachwort explizit darauf, dass er im Buch nicht seine eigene Geschichte erzählt, wohl aber: "… wahre Ereignisse, die wahre Kinder in wahren Lagern während der letzten Monate überall auf der Welt erlebt haben." (S.140) Wie stark er sich dennoch mit dem Erzählten identifiziert, lässt sich schon aus der Bezeichnung seines Protagonisten ersehen. Zwar heißt es, dass die unbegleiteten Kinder im Lager einfach in alphabetischer Reihenfolge "benannt" wurden, aber es ist keineswegs von ungefähr, dass der jugendliche Ich-Erzähler "I" (englisch: "Ich") heißt. Vergleichbare, im englischen Originaltext gewiss noch weit offensichtlichere Wortspiele liegen auf der Hand, wenn man I‘s Freunde hinzunimmt: L, V und E ergeben zusammen mit I entweder "LIVE" (leben, überleben) oder aber "EVIL" (übel, böse). Gemeinsam mit O, dem Namen eines später hinzukommenden Dreijährigen, lässt sich daraus etwa LOVE (= Liebe) oder OLIVE (= Ölbaum; aber auch der Vorname von Tasanes Mutter) bilden (S. 101). Die Bedeutung des Namens zeigt sich ebenfalls bei Charity ("Nächstenliebe"), einer Frau, die sich als Außenstehende, nicht zum Lager gehörige Person regelmäßig um die Betreuung der Kinder kümmert und sie vor dem Schlimmsten zu bewahren sucht. Ihr halbwüchsiger Sohn heißt Seymour, was jener selbst phonetisch gleichsetzt mit "See more" = "Sieh. Mehr." (S. 89); aus Solidarität mit den Campkindern nennt er sich jedoch einfach C. Die Relevanz eines Namens – selbst wenn dieser scheinbar willkürlich zugeteilt wurde und lediglich aus einem einzigen Buchstaben besteht – zieht sich als ausgesprochen wichtiges Merkmal zur Identifikation wie ein roter Faden durch das Buch. Dazu passt auch, dass der kleine O (was, als Zahlwort gelesen, auch einfach Null bedeuten kann) beim Abriss des Camps unauffindbar abhanden kommt. Andererseits werden sämtliche Wachmänner des Camps im Buch lediglich als namenlose, nicht näher zu identifizierende Gestalten präsentiert.

Nahezu gleichermaßen bedeutsam ist der Besitz eines Passes, der gar zum "Lebensbuch" hochstilisiert wird. Ohne Pass, der allein alle für den jeweiligen Inhaber wichtigen Merkmale dokumentiert, ist und bleibt man ein Nichts; nur mit einem Pass wird der Erhalt eines Visums ermöglicht. Und ein Visum bedeutet Freiheit.

Ein Visum ist tatsächlich eine Schatztruhe. Neben Lebensbüchern sind Visa das Wichtigste. Im Grunde sind sie nur eine andere Art, die Geschichte zu erzählen, aber sie werden von den zuständigen Leuten unterschrieben und abgesegnet. Darauf kommt es an. Diese Geschichte ist eine wahre Geschichte. Visa sind in der Sprache der Wachmänner geschrieben, und ein Visum öffnet einem alle Türen. … Das ist so, als hätte man all seine Geburtstage auf einmal. (S. 52)

Dass V eine von einem Wachmann geklaute Visakarte mit einem Visum verwechselt, ist ein tragischer Irrtum; aber Tasane geht in diesem Zusammenhang so weit zu behaupten: "Visakarten und Visa sind gewissermaßen das Gleiche" (S. 54). Damit verdeutlicht er, dass die Möglichkeit, Freiheit zu erleben, ohne finanzielle Möglichkeiten allenfalls eingeschränkt gegeben ist.

In einer Gesellschaft, in der Kinder oft im Überfluss, nicht selten gar bis zum Überdruss mit teils hochkomplexem Spielzeug versorgt werden, ist der Hinweis interessant, dass die Kinder des Flüchtlingscamps, also unter extrem erschwerten Bedingungen, einfachste Mittel zu Spielzeugen umfunktionieren, sich notfalls auch allein mit Wortspielen die Zeit vertreiben und dabei in ihrer Schicksalsgemeinschaft untereinander sowie in gegenseitiger Hilfe – "Wir bleiben zusammen. Unter allen Umständen." (S. 125) – auch eine Art von Glücksgefühl entwickeln. Das Ende bleibt offen; ein simples Happyend würde auch schwerlich passen.

Die Aufmachung des Buches ist ungewöhnlich: Der Text – Titel und erster Satz sind typografisch in Schreibschrift ausgeführt – beginnt bereits auf dem vorderen Einbandrücken und wird direkt auf der Rückseite weitergeführt; das Impressum erscheint erst ganz hinten. Einbandmaterial und Seiten erinnern an Recyclingpappe bzw. -papier. Damit bekommt das Ganze etwas den Eindruck eines Tagebuchs, für das unter den gegebenen Bedingungen selbstredend kein Hochglanzpapier zur Verfügung steht.

Fazit

Tasane hat mit Junge ohne Namen einen sehr einfühlsamen und, gerade im Hinblick auf die noch immer aktuelle Flüchtlingsdebatte, gewiss wichtigen Roman vorgelegt, den man nach dem Lesen schwerlich einfach zur Seite legen kann, ohne davon berührt worden zu sein. Auch wenn sich die vielschichtigen Bedeutungsnuancen des Textes eher dem erwachsenen Leser erschließen dürften, ist das Buch aufgrund seiner plastischen Situationsschilderungen durchaus auch schon für Jugendliche ab 12 Jahren geeignet, zumal es sich auf die Einzelschicksale von Kindern bezieht, die ungewollt Teil einer humanitären Katastrophe wurden. Einer Katastrophe, die nicht eine anonyme Masse, sondern unzählige Individuen, Menschen mit eigenen Namen und persönlichen Lebensgeschichten, betrifft.

 

Alle Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 im Überblick finden Sie hier (mit weiteren Rezensionen auf KinderundJugendmedien.de)

Titel: Junge ohne Namen
Autor/-in:
  • Name: Tasane, Steve
Originalsprache: Englisch
Übersetzung:
  • Name: Henning Ahrens
Erscheinungsort: Frankfurt a.M.
Erscheinungsjahr: 2019
Verlag: S. Fischer Verlag
ISBN-13: 978-3-7373-5643-5
Seitenzahl: 150
Preis: 16,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Tasane, Steve: Junge ohne Namen