Inhalt

Köln im Jahr 1942: Die 16jährige Lene Meister, Auszubildende bei einem Friseur, freut sich inmitten des entbehrungsreichen Kriegsalltags darüber, dass ihr Stiefvater ihr eine Schreibmaschine geschenkt hat. So ein wunderbares Geschenk von einem Menschen, von dem sie sonst nicht viel hält! Denn er ist ein strammer NS-Funktionär, den sie "Onkel Hugo" nennen soll und der zu Lenes Erleichterung noch nicht bei ihr und ihrer Familie wohnt. Oder besser, dem, was von ihrer Familie übrig ist: Der ältere Bruder Franz kämpft an der Ostfront, der Vater ist vermeintlich gefallen, der mittlere Bruder Kalli ist mit der Hitlerjugend in einem Freizeitlager in Gleiwitz. So bleiben der jugendlichen Lene noch die zur Depression neigende und völlig überlastete Mutter und die beiden kleinen Geschwistern Toni und Edith. Lene fühlt sich für alle verantwortlich. Die Schreibmaschine ist Gold wert, denn sie ermöglicht dem aufgeweckten Mädchen, in einen intensiven Briefaustauch mit ihren Liebsten zu treten. Da ist zum einen der Bruder Franz, zum anderen ihre beste Freundin Rosi, die erst nach Norddeutschland, später in Schlesien versucht, dem Bombenkrieg zu entkommen. Mit ihnen tritt Lene in einen regen Briefwechsel, in dem sie von ihren Alltagsnöten im Krieg berichtet, Franz seinerseits vom grausamen Soldatenleben und Rosi vom zu jener Zeit noch friedlichen Landleben. Schon kurz nach den ersten ausgetauschten Briefen lernt Lene Erich kennen und verliebt sich in ihn. Bald erfährt sie, dass er den „Edelweißpiraten“ angehört, einer Gruppe von subversiven Jugendlichen, die vorsichtig und mutig Widerstand gegen die Nazi-Diktatur leisteten, durch den Druck von Flugblättern, mit Wanderungen und Musikabenden. Schnell schließt sich auch Lene der Gruppe an. Von alldem, von ihrer Verliebtheit, aber auch von ihren wachsenden Zweifeln an der NS-Ideologie berichtet sie Rosi freimütig in ihren Briefen. Ganz anders sieht da der gelegentliche Briefaustausch mit dem jüngeren Kalli aus. Er entwickelt sich durch den Einfluss der HJ zu einem glühenden Anhänger des NS-Regimes, was Lene zunehmend mit kritischer Sorge erfüllt. Sie beobachtet Judendeportationen, erfährt, dass ihr Vater nicht an der Front gefallen, sondern im KZ gestorben ist. Ihre vorsichtigen Zweifel, die sie eingangs noch in salbungsvolle Sätze wie "Unser lieber Führer hat sich wohl ein bisschen verrechnet, was die Männer da draußen an der Front brauchen, um für Volk und Vaterland zu kämpfen" (S. 12) packt, wandeln sich im Verlauf der erzählten Zeit zur offenen Kritik und zum Gedankengut einer Widerständlerin. Der Roman endet im Februar 1943 mit einem Brief von Rosi, durch den offen bleibt, ob Lene von der Gestapo verhaftet wurde, weil sie Flugblätter der Edelweißpiraten auf ihrer Schreibmaschine geschrieben hat, oder ob sie fliehen konnte.

Auf das Ende des Romans folgen ein Nachwort des Autors und eines von Dr. Martin Rüther vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln zu unangepassten Jugendlichen im Dritten Reich sowie eine Zeittafel, die über zentrale Ereignisse im Dritten Reich von 1933 bis 1945 informiert.

Kritik

Wo die Freiheit wächst ist in zweierlei Hinsicht besonders: einmal durch das Thema „Widerstand der Edelweißpiraten“, das bisher jugendliterarisch kaum oder gar nicht verarbeitet wurde (allerdings schon in Edelweißpiraten von Dirk Reinhardt, vergleichbare Zugänge sucht auch Johannes Herwig in seinem preisgekrönten Roman  Bis die Sterne zittern, wo er von den Leipziger Meuten erzählt, Jugendgruppen zur NS-Zeit, die in ihren Anschauungen und Aktivitäten den Edelweißpiraten ähnelten), zum anderen durch die für die Kinder- und Jugendliteratur ungewöhnliche Form des Briefromans. Durch die Struktur des Briefwechsels gelingt es dem renommierten Autoren Reifenberg umfassende Einblicke in mehrere Figurenperspektiven und damit verbunden auch in unterschiedliche Schauplätze Deutschlands im Kriegsjahr 1942 zu liefern. Diese multiperspektivische Rundumschau eröffnet ein besonderes Panorama und macht diesen Briefroman mit seiner Edelweißpiraten-Thematik zu einem wichtigen Stück zeitgeschichtlicher Jugendliteratur zur NS-Zeit, das sowohl durch das Was als auch durch das Wie des Erzählens auf der ganzen Linie überzeugt. Dass ein so offener Briefwechsel, wie ihn Lene und Rosi hier führen, eher unrealistisch ist oder jedenfalls „extrem riskant“ gewesen wäre, räumt der Autor in einem Nachwort ein und schreibt:

Trotzdem habe ich die Form des Briefromans gewählt, um Lenes Geschichte zu erzählen. Es war mir wichtig, ihr, ihren Freunden und ihren Geschwistern eine Stimme aus ihrem jeweiligen Alltag und ganz privaten Erleben heraus zu geben. (S. 343)

Und gerade das gelingt Reifenberg fulminant, was auch an seiner klaren und berührenden Sprache liegt, mit der er vor allem Lenes Stimme ausstattet, aus deren Feder auch die meisten Briefe stammen, in der sich historische Kontextualisierung mit subjektiven Emotionen und Figurenerleben verbinden:

Unser Köln werdet ihr nicht mehr erkennen, wenn ihr zurückkommt. Wartet lieber 10 oder besser 100 Jahre, vielleicht haben wir es dann wenigstens ein bisschen abgewischt und ein paar hübsche Blumen und Büsche auf die Trümmerhaufen gepflanzt. Nun aber, wie Vater früher immer gesagt hat: das Wichtigste zuerst und dann eins nach dem anderen und ordentlich der Reihe nach. Wir sind gesund und wir haben ein Dach über dem Kopf, wobei es eigentlich kein Dach mehr ist. […]

Ansonsten Trümmer und Ruinen, wohin du schaust. Sankt Aposteln, Sankt Gereon, Sankt Martin, Maria in der Kupfergasse – alles hinüber. Und wenn du es sonst mit den Kirchen nicht so hast und dir lieber ein schönes Sommerkleidchen kaufen willst, musst du schon nach Bonn, aber zu Fuß, denn es fährt nichts mehr. (S. 118-119)

So werden die Gräuel des Bombenkriegs thematisiert, was den Leserinnen und Lesern schon sehr nahe gehen kann. Noch bedrückender sind die Berichte des Bruders Franz von der Ostfront, die schließlich mit seinem Tod enden. Reifenberg beschönigt nichts und erspart den jugendlichen Rezipienten und Rezipientinnen doch schonungslose Grausamkeit, wie man sie aus den Büchern Gudrun Pausewangs kennt. Das spiegelt sich auch in dem offenen Ende: Was aus Lene wird, weiß man nicht.

Und vor allem ist Reifenbergs beeindruckender Briefromans eins: ein Plädoyer für die Freiheit und den Mut eine eigene Meinung zu haben und öffentlich zu äußern. Lenes große Liebe Erich fällt durchs Abitur wegen seiner nichtkonformen Thesen zum Aufsatzthema „Was bedeutet Freiheit für dich?“ Die Freiheit wächst in uns allen, in jedem einzelnen von uns. Das nimmt man aus Reifenbergs Roman mit, wenn man bewegt die Buchdeckel schließt.

Fazit

Ein komplexer, mitreißender, glänzend recherchierter zeitgeschichtlicher Jugendroman, der sowohl strukturell als auch thematisch neue Wege geht. Er fordert historisch interessierte junge Leserinnen und Leser ab 14 Jahren, die sich auf eine multiperspektivische Erzählweise einlassen wollen oder können und mehr über ein Nischen-Thema der NS-Zeit erfahren wollen. Das offene Ende entlastet und macht Mut zum Widerstand und zum Recht auf die freie Meinungsäußerung! 

Titel: Wo die Freiheit wächst. Briefroman zum Widerstand der Edelweißpiraten
Autor/-in:
  • Name: Reifenberg, Frank Maria
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2019
Verlag: arsEdition
ISBN-13: 978-3-8458-2274-7
Seitenzahl: 376
Preis: 15,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre
Reifenberg, Frank Maria: Wo die Freiheit wächst. Briefroman zum Widerstand der Edelweißpiraten