Inhalt
Meine Geschichte beginnt da, wo Leipzigs schönste Straße endet. Der Scheißdreck an Leipzigs schönster Straße war, dass sie seit drei Jahren einen neuen Namen trug. Als ich zwölf war, hatte ein Mann das Blechschild an meinem Haus entfernt, das bis dahin jedem Vorbeigehenden anzeigte, wo er sich befand. Auf der Südstraße nämlich. […] Seitdem hieß die schönste Straße Leipzigs so: Adolf-Hitler-Straße. (S. 13)
Harro Jäger ist 1936 fünfzehn Jahre alt, als er von einer Truppe von Jungen der Hitlerjugend drangsaliert wird und aus dieser Misere unerwartet von seinem Nachbarn Heinrich gerettet wird. Damit ändert sich alles für Harro. Er wird nach und nach Teil einer Gruppe von Jugendlichen, die sich selbst als die "Clique" bezeichnen und die nichts mit dem autoritären Gedankengut, der hierarchisch engen Gesellschaftsstruktur und dem totalitären Unterdrückungsapparat am Hut haben, welche in den letzten Jahren immer stärker das alltägliche Leben der Leipziger Bürger bestimmen. Harro, der sich selbst eher als Außenseiter sieht, wächst in einem sozialdemokratischen Elternhaus auf, in dem Politik immer schon eine Rolle gespielt hat. Doch mit dem zunehmenden Desinteresse der eigenen Eltern an der Politik und deren Wunsch dazuzugehören, treten Konflikte auf. Während sich Eltern und Kind immer fremder werden, wächst die Freundschaft zu den regimekritischen Jugendlichen aus Connewitz, Harros Stadtteil. In den folgenden Wochen werden Heinrich, Hilma, Edgar, Josephine, Richard, Willi und Pitt Harros beste Freunde und er lernt, über Politik und Staat zu philosophieren und Kritik und Widerstand zu üben. Die Clique organisiert einen Ausflug an einen verbotenen Ort und veröffentlicht anonyme Pamphlete mit der Absicht, die Regierung lächerlich zu machen. Während Harro sich dem Wunsch seiner Eltern, dass er in die Hitlerjugend eintreten und möglichst keine Probleme machen oder bekommen soll, beugen muss, wagt sich die Gruppe auf illegalen Boden und tut auch sonst nichts, um sich an die Regeln zu halten, sondern kleidet und gebärdet sich im Allgemeinen nicht nach der Norm. Der ganz normale Wahnsinn eines Teenagers zieht auch an Harro nicht vorüber. Er wird langsam aber sicher erwachsener und wird mit Liebe, Hass und Gewalt konfrontiert. Nach weiteren Protestaktionen und Schlägereien und seinem Ausscheiden aus der Hitlerjugend gipfeln die Ereignisse in Harros Festnahme durch die geheime Staatspolizei. Er wird unter grausamen Bedingungen verhört und muss um sein Leben fürchten. Schwer angeschlagen kann er sich schließlich mit den Eltern versöhnen und es scheint alles ruhiger zu werden. Nicht die Ereignisse, sondern vielmehr Harros Gesinnung scheint Frieden gefunden zu haben. Er weiß, dass er das Richtige tut, indem er sich gegen das System stellt. Nicht ohne anfängliche Zweifel findet er seinen Weg und geht guten Gewissens in eine unsichere Zukunft.
Kritik
Mit seinem Debütroman hat Johannes Herwig sich zugleich an eines der herausforderndsten Themen der deutschen Geschichte gewagt. Indem er einen Zwiespalt behandelt, der von der Gesellschaft immer noch kontrovers diskutiert wird: Die schmale Gratwanderung zwischen moralischer Verantwortung in der Gesellschaft und Überforderung und Angst um die eigene Haut ist ein Problem, das sich weder einfach noch einseitig behandeln lässt. Es wird verhandelt und erklärt, beleuchtet und aufgeklärt, kritisiert und angeklagt, aber nicht entschuldigt oder verdrängt. Wir haben es hier mit einem Roman zu tun, der nicht eskapistische Rechtfertigungen bemüht oder teleologische Herleitungen von geschehenem Unrecht vornimmt.
Die Leipziger Meuten sind im Verlauf der Geschichte etwas aus dem Blickfeld geraten, wobei gerade deren alltäglicher Widerstand beispielhaft ist für die Opposition einer nonkonformen Jugend, die sich gegen das Regime stellt:
Gemeinsam war ihnen, dass sie die HJ ablehnten und eine selbstbestimmte und ungezwungene Freizeit verbringen wollten. Viele Mitglieder dieser »Meuten« waren vor 1933 in eine[m] der sozialdemokratischen oder kommunistischen Kinder‑ und Jugendverbänd[e] organisiert gewesen. Andere kamen aus Bündischen und Pfadfindergruppen. Um sich auch optisch von der HJ zu unterscheiden, entwickelte sich mit der Zeit ein eigener Dresscode, der sich aus der früheren Wanderbewegung, linkssozialistischen Jugendgruppen und der Bündischen Jugend speiste. […] Es sind mittlerweile 20 Meuten namentlich bekannt, welche über ganz Leipzig verteilt waren. Darüber hinaus gab es eine unbekannte Anzahl von Gruppen, die bei der Gestapo nicht aktenkundig wurden.1
Der Grad an Identifikation der Leserinnen und Leser mit dem Protagonisten ist hoch, da Sprache, Dialoge und Themen nah an der Lebenswelt eines Jugendlichen orientiert sind. Die oftmals flapsige Ausdrucksweise der Charaktere und der großzügige Einsatz von Redewendungen oder Floskeln vermittelt dem Lesenden das Gefühl, mitgenommen zu werden in den Mikrokosmos Leipzig und die selbstverständlich ortskundig verwendeten Plätze des Stadtgebiets und Umlands lassen den Eindruck entstehen, selbst schon ein Leipziger zu sein.
Dies alles in Verbindung mit der detailliert geschilderten Innenwelt des Ich-Erzählers sorgt für Nahbarkeit und Verständnis der Gedankengänge Harros:
Dann ärgerte ich mich. War es nicht meine eigene Entscheidung, unaufrichtig zu sein? Mein eigener Wille? Was sollten meine Eltern schon tun? Mich einsperren? […] Ich musste mit jemandem reden. Dringend. (S. 74)
Trotz großer Nähe zum Protagonisten und der Unmittelbarkeit der Darstellung, öffnet sich in diesem zeitgeschichtlichen Jugendroman, gelegentlich eine reflektierende Meta-Ebene, die stark moralisierend eingreift. Herwig verwendet anscheinend das eigene philosophische und politische Konzept und lässt die in diesen Situationen teils idealisierten Figuren eine Art Plädoyer halten. Man gewinnt dadurch den Eindruck, dass die Figuren hin und wieder aus der Rolle heraustreten, was die Dialoge gelegentlich sehr pathetisch erscheinen lässt. In diesen Schilderungen bedient sich Herwig teilweise stark überformter Metaphern, die aber zur bildlichen Antizipation der Situation anregen. Wenn zum Beispiel von den Folgen des ersten Alkoholrausches die Rede ist: "Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, wo ich war. Ein kleiner boshafter Wicht zog mit aller Kraft an meinen Augen." (S. 68) Oder als der Autor eine schamvolle Situation im Klassenzimmer schildert: "Der Hohn der anderen lief meinen Rücken entlang wie eine dicke, schwarze Spinne." (S. 86) Auch wenn an der NSDAP Kritik geübt wird oder der Kommunismus gelobt wird, sind die Äußerungen für die von 14- bis 17-jährigen häufig allzu präzise und ausformuliert: "Selbstverwaltung kann natürlich nur als Prozess funktionieren. Ein Prozess, in dem alle eingebunden sind, und seien sie noch so egoistisch. […] Der Mensch ist ja kein starres Wesen" und passen nicht ganz zum sonstigen Duktus, der Neologismen und behelfsmäßige Umschreibungen viel organischer integriert: "'Zehn Schuss fünf Pfennig!', jahrmarktelte der Standbesitzer" (S. 90) oder: "Pitt ist ein Goldstück, aber kaputt. Ein kaputtes Goldstück. Verstehste?" (S. 95). Die grammatisch teilweise kreative Satzstruktur, die nicht normorthographisch umgesetzt ist und dies auch gar nicht muss, trägt zum ansonsten konsistenten Sprachbild der Zeit und der Figuren bei: "Meinste nicht ernst, oder?" (S. 178) oder: "Gut siehste aus" (S. 200). Die häufig subjektarmen Sätze der Clique stehen im krassen Gegensatz zum Paragraphendeutsch der regeltreuen Hitlerjugend und verdeutlichen so sehr anschaulich auf formaler Ebene auch die inhaltlichen Differenzen. Eine große Stärke des Romans ist, dass er Vorbilder schafft, die Widerstand leisten, sich nicht brechen lassen und Partei ergreifen für die Schwächeren. Die vielfach kritisierte Generation der Eltern, die einfach mitliefen und sich nicht wehrten, wird kritisch präsentiert und deren Beweggründe werden nachvollziehbar erklärt, dabei aber nicht entschuldigt. Der Autor schildert die Angst und Unsicherheit ebenso wie das berauschende Gefühl der Überlegenheit in der Gruppe und die Faszination von Gewalt, wobei diese ambivalent beleuchtet wird und dem Protagonisten selbst oft Gewissensbisse bereitet. Die Leserinnen und Leser werden in ihrer eigenen Lebenssituation abgeholt: Auf einer Schwelle, die geprägt ist von Umbruch und Initiation, von Unsicherheit und Begeisterung, und Herwig scheut sich dabei nicht, Themen wie (Homo-)Sexualität und Tod zu behandeln. Dass unterschiedliche Vorlieben oder Konzepte kein Hindernis für eine Freundschaft sein müssen, ist eine wichtige Botschaft in jeder Zeit. Nur sollte man kein Faschist sein, darf man dem Roman entnehmen. Das ist immer ein Hindernis, zu jeder Zeit.
Fazit
Bis die Sterne zittern ist ein spannender Roman mit fesselnder Handlung und gut recherchiertem historischem Hintergrund. Als Lektüre für die Schule und den Deutschunterricht ist er gut geeignet, da er die Kommunikation über zentrale Themen der Jugend anregt und sie mit Politischem verbindet. Er klagt das Verhalten von Nazis und Mitläufern im Nationalsozialismus an, ohne die persönlichen Umstände von Einzelschicksalen dabei zu missachten, sondern sensibilisiert für die Ursache-Wirkung-Paradigmen in dieser Zeit. Der Roman geht mit gutem Beispiel voran und thematisiert Gewalt und fragwürdige Formen des Widerstandes. Leicht zu verstehen und packend nimmt er die Leserinnen und Leser mit und verliert sich nicht in Beschreibungen oder Schachtelsätzen bei gleichzeitiger Liebe zum Detail. Eine Altersempfehlung von 14 Jahren scheint aufgrund der teils sehr direkten Schilderungen von Gewalt und Sexualität angemessen.
Quellen
1 https://leipzigermeuten.wordpress.com/geschichte/
- Name: Herwig, Johannes