Inhalt

Der Anlass war eigentlich belanglos. Laila war beim Skateboarden gestürzt, weil sie einen im Weg stehenden Hocker nicht gesehen hatte. Doch die Untersuchung im Krankenhaus Santo Toribio im peruanischen Lima ergibt eine erschreckende Diagnose: Ceroid-Lipofuszinose, eine bösartige Erkrankung, die lediglich palliativ behandelt werden kann und nach zunehmender Sehstörung und Demenz frühzeitig zum Tod führt. Eine Katastrophe von ungeahntem Ausmaß für die 13-jährige Diplomatentochter, die ihren verordneten Aufenthalt in der Pädiatrie und die Trennung von der Familie als extrem belastend empfindet. Erst ganz allmählich bekommt sie Kontakt zu den anderen jungen Patienten und Patientinnen. Auch zu dem gleichaltrigen Peruaner El Rato, der Zeit seines Lebens in der Klinik lebt und mit seinen Streichen für Aufregung sorgt. Als beide beim Herumtoben in der Bücherei der Klinik ein jahrzehntealtes Tagebuch finden, in dem die besonderen Heilkräfte eines Schamanen von K. und einer im Regenwald verschollenen Blume erwähnt werden, eröffnet sich für Laila eine vorsichtige Hoffnung auf mögliche Heilung. Mutig verlassen die beiden Teenager ohne weitere Absprache mitten in der Nacht die Klinik und machen sich auf eine äußerst beschwerliche Reise ins Ungewisse. Wiederholt begeben sie sich dabei in akute Lebensgefahr, lassen sich aber durch nichts und niemanden von ihrem erstrebten Ziel ablenken. Glücklicherweise begegnen ihnen immer wieder freundliche Menschen, die sie mit Rat und Tat unterstützen. Doch der gesuchte Schamane ist, wie sie schließlich erfahren müssen, längst verstorben. Aber mit der Hilfe von drei neuen jungen Freunden treffen sie nach tagelangem, extrem kräftezehrendem Marsch durch den Regenwald auf seinen schon recht betagten Schüler. Er wird sie nach längerer Vorbereitung mit irritierenden schamanischen Ritualen konfrontieren, die vor allem von Laila eine in jeder Hinsicht existenzielle Entscheidung erfordern.

Kritik

"Ich werde bald sterben, und das ist die reine Wahrheit." (S.7) Diese berührende Aussage der 13-jährigen Laila ist der allererste Satz des Prologs von Davide Morosinottos neuem Jugendroman; er verdeutlicht, dass es sich bei Der Ruf des Schamanen um mehr als eine vor allem auf möglichst großen Nervenkitzel abzielende Lektüre handeln dürfte. Eine hohe Erwartung, die der Autor indes voll erfüllt.
Der Roman wird aus der Ich-Perspektive unterschiedlicher Beteiligter des Geschehens, vorrangig jedoch von Laila und El Rato erzählt. Die einzelnen Kapitel haben zum besseren Verständnis als 'Überschriften' unterschiedliche, stilisierte Tierzeichnungen, die den jeweiligen Erzählern und Erzählerinnen zugeordnet sind; die Art der Tiere ist dabei entsprechenden schamanischen Naturgeistern zugeordnet.
Schauplatz ist das Peru des Jahres 1986. Die vorherrschenden Umstände dieser Zeit sind akribisch recherchiert und beschrieben, auch die prekären sozialen Verhältnisse sowie die wiederholten terroristischen Aktivitäten von Guerillaorganisationen (Morosinotto weist beispielsweise im Nachwort darauf hin, dass der im Plot erwähnte Bombenanschlag auf den Zug nach Machu Picchu tatsächlich stattgefunden hat). Auch die bei Laila beschriebene Erkrankung 'Juvenile Ceroid-Lipofuszinose' ist keine Erfindung des Autors, sondern existiert als seltene, sehr schlimme Krankheit, die sich infolge von zunehmender Nervendegeneration in Symptomen wie allmählicher Erblindung, Spastik und epileptischen Anfällen sowie fortschreitender Demenz äußert. Eine durchgreifende Therapie gibt es bislang nicht.
Wie auch in seinen früheren Jugendromanen betont Morosinotto einfühlsam den Wert von Freundschaft und zwischenmenschlichem Respekt. Soziale Unterschiede werden dabei nicht realitätsfremd nivelliert: Mit ihrem finanziellen und standesgemäßen Background als Diplomatentochter hat es Laila naturgemäß in vielfacher Hinsicht einfacher als das Findelkind El Rato. Doch es werden immer wieder Situationen beschrieben, die nicht im Alleingang, sondern nur gemeinsam bewältigt werden können. Als Laila etwa wegen ihrer eingeschränkten Sehfähigkeit immer wieder im Urwald stolpert, wird ihr El Rato zur unverzichtbaren Stütze:

'El Rato … was soll ich nur tun?' Er trat ganz nah an mich heran und meinte lächelnd: 'Das ist doch nicht schlimm.' Dann wandte er mir den Rücken zu, griff nach meinen Händen und legte sie sich auf die Hüften. 'Wenn du mit deinen Augen nicht sehen kannst, dann nimm meine. Wir gehen von jetzt an einfach so. Du lässt dich von mir leiten und brauchst nur darauf zu achten, nicht zu stolpern. Mein Körper ist jetzt der Schild, der dich vor allem anderen schützt.' Ich fand das so lieb von ihm, dass ich gar nichts darauf zu sagen wusste. (S. 332 f.)

Dass eine solche Situation nach allerlei Missverständnissen in ein zartes erstes Liebesverhältnis der beiden Teenager mündet, ist nahezu zwangsläufig. Auch hier beweist sich Morosinotto als ein ausgesprochen feinsinniger und emotionaler Erzähler, der auch die fatale Krankheitsproblematik in ihrer ganzen Radikalität (für Laila als Betroffene, aber auch für ihre Familie und Umgebung) weder abmildert noch verharmlost, sondern vielmehr in Mut machender Weise verarbeitet. 
Mit seiner Thematisierung des Schamanismus peruanischer Ausprägung hat sich der Autor auf eher schwieriges Terrain begeben. Nachdem er schon sehr bald die therapeutischen Grenzen der modernen Medizin (hier speziell im Hinblick auf die Lipofuszinose) beschrieben hat, scheint die Heranziehung einer mystisch-mythischen Naturreligion das Mittel der Wahl zu sein. Hinsichtlich der Ausführung schamanischer Riten zeigt sich Morosinotto bestens informiert; gegen Ende des Buches scheint er in seiner Beschreibung der Trance-Erlebnisse (sie sind typographisch durch weiße Schrift auf schwarzem Seitenuntergrund ausgeführt) gar regelrecht im magischen Setting zu schwelgen. Doch dem Autor ist zweifellos nicht daran gelegen, moderne Schulmedizin und die nach wissenschaftlichen Kriterien wie auch christlichen Auffassungen nur schwer nachvollziehbaren Vorstellungen des traditionellen Schamanismus gegeneinander auszuspielen. Ungeachtet der krassen Unterschiede haben beide Sichtweisen für ihn ihre Berechtigung und ihre spezifischen Einsatzmöglichkeiten, die er auch für jugendliche Leserinnen und Leser plausibel vermittelt:

'Allerdings gilt es einige Regeln zu beachten', warnte uns Miguel. 'Die erste lautet, dass ihr euch von euren Augen nicht täuschen lassen dürft. Jeder Gegenstand und jedes Lebewesen existiert gleichzeitig in zwei Wirklichkeiten: in unserer und in der der Geister. Es gibt das Aussehen in der Menschenwelt, das ist das, was ihr normalerweise zu sehen bekommt. Und es gibt die Manifestation der Kraft, die davon sehr verschieden sein kann. Die verschollene Blume beeindruckt in der Geisterwelt durch ihr Aussehen, während sie in unserer Welt einfach nur wie eine normale Blume aussieht. Seid also nicht enttäuscht.' (S. 350)

Auch wenn zwischenzeitlich der Eindruck entstehen könnte, dass der Roman durch seinen Schwenk in eine etwas schwer eingängige Wirklichkeitsvorstellung komplett ins Magisch-Fantastische abschweift, so erweist sich Morosinotto als ein Meister exzellenter Erzählkunst: Ohne den Leserinnen und Lesern vorab zu viel verraten zu wollen, darf der letztlich präsentierte, wenngleich nicht unbedingt so erwartete Ausgang seiner Geschichte als stimmig abgerundet und in seiner Weltsicht problemlos nachvollziehbar bezeichnet werden.
Im Buch gibt es nur wenige Illustrationen, beispielsweise zum Text passende, einfach gezeichnete Landkarten. Im ersten Buchviertel fällt die relativ häufige Verwendung von Typotaphern oder Änderungen des Schriftbildes auf. So steht etwa der Satz „Ich dachte an nichts, ich fühlte mich ganz … leer“ (S.76 f.) quasi illustriert in normaler Schriftgröße auf zwei ansonsten komplett leeren Buchseiten. Die bei Laila krankheitsbedingten Einschränkungen des Gesichtsfeldes werden auf etlichen Seiten durch eine leichte Unschärfe der Typen rechts und links im Schriftblock verdeutlicht; eine beginnende Trance wird mehrfach als wellenförmige Zeilenführung ausgeführt. Ein epileptischer Anfall wird durch eine mehr als doppelseitige (vgl. S. 313ff) kleintypige Textlinie in Form einer angedeuteten EEG-Kurve skizziert; in ähnlicher Weise wird sogar der Kopf des Schamanen dargestellt (vgl. S. 339). Das mag einigermaßen raffiniert anmuten, ist aber in dem durchweg spannend erzählten Text zumeist überflüssig, nicht selten sogar störend, weil teils schwer zu entziffern und zudem der Lesefluss dadurch unnötigerweise gehemmt wird. Es ist ja gerade Morosinottos besondere Fähigkeit, derart flüssig und verständlich zu formulieren (was zweifellos auch der guten Übersetzung zu verdanken sein dürfte), dass ein derartiges 'Aufhübschen' des Textes eher ungeeignet erscheint.
Morosinotto lässt sein Buch enden mit einer starken Botschaft, die er seiner Protagonistin auf einer der letzten Seiten als Aussage in den Mund legt:

'Ich werde bald sterben', sagte sie. 'Jetzt weiß ich es. Und ich weiß, ich kann nichts dagegen tun. Aber ich finde es nicht mehr schlimm. Denn ich habe gelebt.' (S. 409)

Gelungenes Leben – so möchte es Morosinotto vermitteln – ist keine Frage von Länge oder Lebensalter, sondern viel mehr der Intensität: ein Austesten der eigenen Möglichkeiten, unabhängig von Konventionen, die (gemeinsame) Überwindung von scheinbar unbezwingbaren Grenzen, immer im Blick nach vorn, um letztlich – wie dies auf den allerletzten Buchseiten treffend ausgeführt wird – im Frieden zu sein mit den eigenen Erinnerungen.

Fazit

Der Ruf des Schamanen ist gleichermaßen ein spannend geschriebenes Abenteuerbuch, eine anrührende Liebesgeschichte, eine atmosphärisch fesselnde Erzählung einer Reise quer durch den südamerikanischen Regenwald. Im Vordergrund steht – wie so oft bei Morosinotto – der unermessliche Wert von Kameradschaft, Freundschaft und gegenseitigem Vertrauen. Ungeachtet seiner teils recht anspruchsvollen Thematik überzeugt das Buch mit eingängiger Sprache und kann uneingeschränkt für Jungen und Mädchen ab 12 Jahren empfohlen werden. Aufgrund seiner Vielschichtigkeit kann es aber ebenso als All-Age-Buch bezeichnet werden.

Titel: Der Ruf des Schamanen- Unsere abenteuerliche Reise in das Herz der Dunkelheit
Autor/-in:
  • Name: Morisonotto, Davide
Originalsprache: Italienisch
Originaltitel: Il fiore perdutto dello sciamano di K.
Übersetzung:
  • Name: Cornelia Panzacchi
Erscheinungsort: Stuttgart
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Thienemann Esslinger
ISBN-13: 978-3-522-20274-9
Seitenzahl: 432
Preis: 18,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Morosinotto, Davide: Der Ruf des Schamanen