Inhalt
Elli erhält eines Tages einen Brief von Marilu. Wegen eines Burnouts wurde die fünfzehnjährige Elli in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie therapiert und hat sich mit der bipolaren Marilu angefreundet. Nun hält Elli zwei Jahre später den Brief ihrer Freundin in der Hand. Die Botschaft ist ein Appell, sie zu finden, ja, ihr das Leben zu retten. Auch Marilus Bruder Lasse hat einen solchen Brief bekommen. Gemeinsam starten Elli und Lasse im Hochsommer einen Road Trip, dem sich kurze Zeit später auch Ellis Freund Tom anschließt. Sie haben nur wenige Tage Zeit, um Marilu zu finden.
Auf ihrer Reise stellen Elli, Lasse und Tom fest, dass Marilu alles bis ins kleinste Detail geplant hat. Sie lässt Elli und Lasse geradezu unmögliche Aufgaben bewältigen, damit sie an weiterführende Informationen kommen, die sie zum nächsten Ort führen. Auf dieser Schnitzeljagd werden die beiden immer wieder mit ihren Ängsten konfrontiert – und wachsen über sich selbst hinaus. Marilus Botschaft wird klar: Angst ist nur eine Erfindung. Doch die Angst, Marilu nicht mehr zu finden, wächst mit jeder Minute. Den drei Jugendlichen rennt die Zeit davon.
Kritik
Mit Marilu legt Tania Witte einen Jugendroman vor, der trotz seiner ernsthaften Thematik in Bezug auf depressive Erkrankungen bei Jugendlichen ausgesprochen unterhaltsam und erfrischend ist. Wie schon das schwungvoll anmutende Cover zeigt, handelt es sich um eine Road Novel. Erzählt wird der Roman in einer heterodiegetischen Erzählperspektive mit personaler Konstruktionen, die eine starke interne Fokalisierung auf Elli ermöglicht. In den Rückblenden aus der Zeit in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik Sonnenblick ist es Elli selbst, die aus der Ich-Perspektive das Geschehen schildert. Gerade die Rückblenden bringen vor allem die bipolare Figur Marilu dem Lesepublikum näher. Aufschlussreich sind überdies Marilus Briefe und Anweisungen, die sich typographisch vom Haupttext abheben und neben den Analpesen Einblicke in die zunächst geheimnisvolle Figur geben, die im Hintergrund die Fäden zieht.
Der gesamte Road Trip steht im Zeichen von Marilus suizidalen Gedanken, so dass Elli, Lasse und Tom zum zügigen Handeln gezwungen sind. Das Tempo dieser ungewöhnlichen Schnitzeljagd spiegelt sich in der Romanstruktur wider. Jedes Kapitel beginnt mit einer konkreten Zeitangabe. Die erzählte Zeit beginnt dienstags um 14:12 Uhr und endet freitags um 23:54 Uhr. Diese strukturellen Merkmale, die teils humorvollen Dialoge und die abenteuerlichen Aufgaben machen den Roman zu einem dynamischen Leseerlebnis. Obgleich die Spannung bis zum Ende gehalten wird, wirken die letzten beiden Kapitel gehetzt erzählt.
Besonders lobenswert ist, dass die Hauptfiguren Elli und Marilu nicht auf ihre pathologische Vorgeschichte reduziert werden, da sie mehrdimensional konzipiert sind und Elli eine starke Identifikationsfigur darstellt. Eine Stigmatisierung bleibt somit aus. Dies ist insofern hervorzuheben, als es sich bei Depressionen bei Jugendlichen bis auf wenige Ausnahmen noch immer um ein Tabu-Thema innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur handelt. Erstaunlich hingegen ist, dass tödliche Erkrankungen wie zum Beispiel Krebs spätestens seit John Greens Erfolgsroman Das Schicksal ist ein mieser Verräter (2012) seit einigen Jahren ein populäres Thema in jugendliterarischen Romanen geworden sind, die sich beim Lesepublikum trotz des meist düsteren Ausgangs großer Beliebtheit erfreuen. Burnout oder bipolare Störungen bei Jugendlichen sind dagegen selten Thema in gegenwärtigen Kinder- und Jugendromanen. In Marilu wird diese Tabuisierung psychischer Störungen zur Sprache gebracht. So gibt Marilu beispielsweise an, dass die "Ärzte komplett aus dem Häuschen gewesen waren, als sie mit dreizehn in die Klinik eingewiesen worden war. Weil sie zu jung war für eine bipolare Störung […]." (S. 95)
An einer anderen Stelle wird das Problem der Stigmatisierung verdeutlicht: So hat Elli ihrem Freund Tom lange verschwiegen, dass sie in klinischer Behandlung gewesen ist, da sie Angst vor seiner Reaktion hatte:
Und auf einmal war alles möglich gewesen und mit ihm, nein, für ihn hatte sie damals ihre Puzzlestücke in Windeseile zusammensetzen können zu einem wunderbaren Bild. Elli war ein Bild für Tom. Dass sie für ihn extra ein paar Puzzlestücke in Form geschnitten hatte, brauchte er nicht zu wissen. Zumindest war sie davon bisher überzeugt gewesen. (S. 177)
Die Puzzle-Metaphorik gleicht einem Spiel mit der eigenen Identität. Auf literarischer Ebene sind ähnliche Metaphern durchweg sehr gelungen und ziehen sich motivartig durch den gesamten Roman. Die Ernsthaftigkeit depressiver Erkrankungen wird aber dennoch in reflexiven Erzählergedanken zum Ausdruck gebracht:
Unvermittelt begriff ich, dass es das war, was uns verband: Wir waren beide gefangen. Ich, weil ich mir einbildete, dass etwas Gefährliches, Schwarzes in mir lebte, das, sobald ich die Kontrolle aufgeben würde, alle Menschen, die ich liebte, in den Abgrund reißen würde – Marilu, weil sie es von sich wusste. (S. 206)
Derartig starke literarische Bilder bringen jugendlichen Leserinnen und Lesern das Thema Depression auf eindrucksvolle Weise nahe, obgleich die depressiven Erkrankungen hier keineswegs ausschließlich im Vordergrund stehen. Die Coming-of-Age-Geschichte ist keine Pathographie, sondern ein Jugendroman über eine intensive Freundschaft mit einer lebensbejahenden Botschaft.
Fazit
Tania Witte macht mit ihrer Road Novel Marilu Depressionen bei Jugendlichen sichtbar. Die Handlung ist dynamisch, angereichert mit humorvollen Dialogen und einem ungebrochenen Spannungsbogen. Auf literarischer Ebene regt der Roman wegen seiner stimmigen Bilder zum Nachdenken an. Dies alles macht den Jugendroman zu einem abwechslungsreichen Lesevergnügen. Zu empfehlen ist die Lektüre für Jugendliche ab ca. 14 Jahren.
- Name: Witte, Tania