Inhalt

Irgendwann gegen Ende unseres Jahrhunderts: In Newville lebt man sicher; denn mittels eines LongLife-Chips, der seit über 20 Jahren jedem Bürger von Gesetzes wegen implantiert wird, können kleinste Anzeichen von Krankheiten oder Stress unterschiedlichster Art registriert werden. Im Bedarfsfall werden sofort Einsatzteams aus der Zentrale an die betreffende Person geschickt und können Schlimmeres verhindern. Also alles bestens, oder? Einige Jugendlichen empfinden hingegen diese Art der ständigen Überwachung als inakzeptable Freiheitseinschränkung. Daher haben sie die Untergrundorganisation „Vront“ gegründet (das Wort ist eine Zusammensetzung aus "Victory" und "Front"). Einer der Initiatoren ist der 17-jährige Mathe- und Computerexperte Scott. Er wird nach einer missglückten Aktion verhaftet und verurteilt. Im Gefängnis trifft er auf Mitglieder einer kriminellen Bande, die seine Computerkenntnisse nutzen wollen für diverse schwerwiegende Straftaten. Dabei kommt es auch zur Ermordung reicher Bürger, indem deren Chips so manipuliert wurden, dass damit tödliche Herzaktionen ausgelöst werden. Scott sieht praktisch keinerlei Möglichkeiten, seine ungewollte Mitarbeit zu verhindern, bis er die geheimnisvolle Alma trifft. Als junge Undercover-Agentin will sie den Hintermännern der Bande auf die Schliche kommen.
In Scotts Familie ahnt man nur wenig von diesen Vorgängen. Nur sein jüngerer Bruder Stan versucht, mehr über die verdeckten Vront-Aktivitäten und Scotts Mitgliedschaft zu erfahren. Anfangs ahnt er nicht, dass sich Scott zunehmend in akuter Lebensgefahr befindet. Und die Katastrophe lässt nicht lange auf sich warten. Doch nach und nach stellt sich heraus, dass alles doch völlig anders ist als es zunächst den Anschein hatte…      

Kritik

Yves Grevets Roman Vront als Dystopie einzuordnen, ist prinzipiell richtig, greift aber etwas zu kurz. Von einem allzu weit zukünftig angesiedelten und als unmittelbar bedrohlich wahrgenommenen Szenario ist nicht die Rede. Vielmehr scheint sich das Alltagsleben der Romanfiguren nur wenig von heutigem zu unterscheiden. Durch diese weitestgehend vertrauten Verhältnisse wird die angesprochene Thematik nicht allein in eine vage Zukunft verlegt, sondern lässt sich nahezu unverändert auch auf die Gegenwart beziehen. Zudem ermöglicht dieser Ansatz eine recht unproblematische Identifikation der Lesenden mit den agierenden Romanfiguren. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den jungen Stan und seine Freunde und Freundinnen. Sein Bruder Scott fungiert hingegen als eine Art heroische Erlösergestalt mit fast schon klischeehaften Merkmalen und Lebensphasen: gut aussehend, mit phänomenalen Computerfähigkeiten, mit selbst gewählter Trennung von der Familie (zu deren Schutz), einer intensiven Leidenszeit (im Gefängnis), Sterben und Wiederauferstehung (wenngleich nur fingiert) etc. Ähnlich überzeichnet wird seine Gegnerin dargestellt: Sie ist eine luziferische Schönheit und repräsentiert zugleich das personifizierte, gänzlich skrupel- und gewissenlose Böse.
Einige technologische Fortschritte, die teils heute schon realisierbar sind und längst nicht mehr als reine Science-Fiction gelten, verändern das allzu normal anmutende Bild. So ist es allseitige Pflicht, sich der Implantation eines speziellen Chips zu unterziehen, der diverse Vitalparameter und Stoffwechselvorgänge misst sowie eine jederzeitige Geolokalisation ermöglicht, so dass bei Bedarf auch sofort Interventions- und Hilfsteams auf den Weg geschickt werden können, der weiterhin aber auch etwa bei falschem Verhalten mittels Stromimpulsen zur „Bestrafung“ eingesetzt wird. Natürlich dient alles nur zum Besten des einzelnen Bürgers, was durch die medial hervorgehobene Vermeidung von Krankheiten, häuslicher Gewalt oder fatalen Unfallfolgen auch immer wieder ins Bewusstsein gebracht wird.

'Weißt du nicht mehr, was sie uns schon in der Grundschule beigebracht haben? Mit der Geolokalisation überwachen wir die Bösen und schützen die Guten'" (S. 88)
'Solange man innerhalb eines Bewegungsradius‘ bleibt, kann man sich eigentlich frei fühlen.' (S. 280)
'Gefahren lauern überall, und zum Glück bewahrt uns LongLife davor.' (S. 469)

Doch an dieser staatlichen Überfürsorge entzündet sich zugleich der Konflikt. Während vor allem die ältere Generation die Vorteile zu schätzen weiß, empfinden die Jüngeren die kaum spürbare Dauerüberwachung als erhebliche Einschränkung ihrer Entscheidungsfreiheit, auch derjenigen, eigene Grenzen auszutesten und dabei möglicherweise ganz bewusst unkalkulierbare Risiken einzugehen. Ihr Credo lautet daher:

Die Macht, mit der die Behörden in ihrem Kontrollwahn ein Überwachungsunternehmen wie LongLife ausgestattet haben, sollte begrenzt werden. Sie [Vront-Demonstranten] wollten das Verhältnis von Sicherheit und Risiko selbst bestimmen können, keinen Bewegungsradius mehr aufgezwungen bekommen… Aber sie fanden kein Gehör, und LongLife griff zu allen verfügbaren Mitteln, um die Bewegung zu schwächen. (S. 281) 

Der Roman thematisiert so den schmalen Grat, der prinzipiell immer zwischen durchaus gut gemeinter staatlicher Fürsorge und persönlicher Entscheidungsfreiheit besteht. Gegen Letzteres wehrt sich die mysteriöse Formation „Vront“, die von einigen Eltern als „unverantwortliche Saboteure“ und „gefährliche Terroristen“ diskreditiert werden (S. 18). Mit profunden IT-Kenntnissen sind die Mitglieder in der Lage, ihre LongLife-Chips zeitweise zu deaktivieren und sich dadurch bei ihren geheimen Treffen der staatlichen Kontrolle zu entziehen.
Als zweite, nicht minder brisante Problematik weist der Roman auf die immensen Möglichkeiten des Daten- und Gerätemissbrauchs durch skrupellose kriminelle Hacker hin, die den nur vermeintlich umfassenden Schutz auf diese Weise konterkarieren.
Grevet hat beides in seinem sehr spannenden Thriller eingearbeitet; er bietet richtigerweise keine Patentlösungen an, hat aber (mit der Aussage der Romanfigur Hortense) immerhin einen kleinen praktischen Tipp parat:

Man sollte alle Bürgerinnen und Bürger Kampfsport machen lassen, also Kämpfe mit klaren Abläufen und Regeln. Dann wäre die Welt viel friedlicher, so paradox das klingt. Die Leute würden lernen, ihre Aggressionen zu kanalisieren und ihre Gegner zu respektieren. (S. 369)

Der durchgängig aus der Ich-Perspektive im Präsenz erzählte Roman – davon ca. je 40% von den Protagonisten, dem 14-jährigen Stan und seinem 17-jährigen Bruder Scott, der restliche Textanteil von Vront-Mitgliedern – zeigt deutlich den Zwiespalt der Jugendlichen, die mit technischen Tricks und zivilem Ungehorsam gegen staatliche Autorität aufbegehren wollen, ohne dabei Gewalt anwenden oder ihre Familien in Schwierigkeiten bringen zu wollen. Doch sie müssen erkennen, dass diese Bedingungen letztlich nur ansatzweise durchzuhalten sind. Es ist ein Konflikt ohne "saubere" Lösung, dessen Spannung sich zudem aus den unterschiedlichen Blickwinkeln und daher auch unterschiedlichen Bewertungen des Erlebten und Gesehenen der erzählenden Figuren ergibt: Vieles erweist sich letztlich als ganz anders als es zunächst scheinen mag.
Auch die Betonung unverbrüchlicher Freundschaft, die gegenseitigen Zweifel sowie die tiefen, durch Liebe hervorgerufenen Emotionen finden reichlich Platz im Roman, der damit das ganz normale Verhalten junger Erwachsener schildert.

Fazit

Die Diskussion, inwieweit der Staat zum Schutz seiner Bürger in deren Grundrechte eingreifen darf, ist derzeit etwa im Hinblick auf die Einschränkungen, die sich aus der Corona-Pandemie ergeben, höchst aktuell. Yves Grevet maßt sich in seinem spannenden Roman Vront nicht an, eine passende simple Lösung dafür anbieten zu können. Gerade deshalb bietet das Buch eine hervorragende Grundlage, diese Problematik – oder im weitesten Sinne die im Untertitel gestellte Frage "Was ist die Wahrheit?" – mit jugendlichen Leserinnen und Lesern ab etwa 13 Jahren eingehend zu diskutieren. 

Titel: Vront – Was ist die Wahrheit?
Autor/-in:
  • Name: Grevet, Yves
Originalsprache: Französisch
Originaltitel: Grupp
Übersetzung:
  • Name: Püschel; Nadine
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: mixtvision
ISBN-13: 978-3-95854-149-8
Seitenzahl: 500
Preis: 19,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 13 Jahre
Grevet, Yves: Vront – Was ist die Wahrheit?