Inhalt
Lydia hat ihren kleinen Bruder Henry bei einem Autounfall verloren. Kurz nach diesem tragischen Schicksalsschlag verlässt der Vater die Familie, und Lydia bleibt mit ihrer Mutter allein im Elternhaus zurück. Die Mutter spricht kaum noch mit ihr, scheint ihre Tochter in der Trauer vollkommen zu vergessen und sitzt Abend für Abend vor dem Fernseher und schaut eine Krankenhaus-Serie. Auch die beste Freundin hat Lydia verloren: Emma saß mit im Unfallwagen und hat schwere körperliche Narben davongetragen, für die sie die ehemalige Freundin verantwortlich zu machen scheint. Doch das ahnt die Ich-Erzählerin Lydia nicht. Für sie ist nicht verständlich, warum die schöne und attraktive Emma, die ihr einst so nahestand, sie nun plötzlich in der Schule mobbt und ausgrenzt und ihr sogar öffentlich an den Kopf wirft, es sei besser gewesen, wenn Lydia anstelle des Bruders gestorben wäre. Zu Aussprache und Dialog kommt es nicht. Stattdessen sucht sich die so vereinsamte Protagonistin auf ganz andere Weise Hilfe: Sie baut sich eine künstliche Intelligenz (KI), einen Roboter, den sie in Gedenken an ihren verstorbenen Bruder Henry nennt. Zunächst ist Henry nur ein Chip, doch Lydia hat ihn so raffiniert konzipiert, dass er sich mehr und mehr zu einer Persönlichkeit mit einem eigenen Willen entwickelt. Und so wird die KI Henry zu Lydias bestem Freund und schließlich zur großen Liebe, denn nur er versteht und unterstützt sie. Gemeinsam hacken sie sich in diverse Computersysteme der Stadt, auch in Emmas Accounts in den sozialen Medien und schaffen es so, auf perfide Weise Rache für die Ausgrenzungen zu nehmen, die Emma Lydia zuteil werden ließ. In Henry und Lydia wächst der Wunsch, der KI einen Körper zu verleihen. Der erste Versuch, den Wunsch real werden zu lassen, scheitert. Als Lydia einem Klassenkameraden auf einer Party eine Injektion verabreicht, mit der sie die KI in seinen Körper infiltrieren will, wird sie von der Polizei verhaftet. Es stellt sich heraus, dass die Behörden schon lange auf ihrer Spur sind und die Existenz einer KI bei ihr vermuten, weil sämtliche Hacker-Attacken sie verdächtig gemacht haben. Doch Lydia weigert sich standhaft, mit den Behörden zusammenzuarbeiten, nimmt lieber den Aufenthalt in der Psychiatrie in Kauf als Henrys künstliche Identität bzw. sein Programm preiszugeben. In einem fulminanten Showdown gelingt es ihr schließlich, den ermittelnden (jungen, attraktiven) Agent Hall zu überwältigen und Henry in dessen Körper zu installieren. Auf diese Weise körperlich geworden, kommt es zu ersten sexuellen Kontakten zwischen Lydia und der KI. Doch immer deutlicher wird, was Henry trotz aller Perfektion in seiner Konstruktion fehlt: ein menschliches Gewissen. Das erkennt auch Lydia, und es scheint, als könnte diese Erkenntnis doch noch zu einem Reifungsprozess der Protagonistin führen, zumal sie sich mit Emma und ihrer Mutter ausspricht und versöhnt. Doch es folgt ein sehr überraschendes Ende, das hier nicht verraten werden soll...
Kritik
...denn das würde diesem mitreißenden Pageturner die Spannung nehmen, von der das Buch lebt. Naomi Gibson debütiert mit diesem Jugendroman, der in der Erzählstruktur und dem Spannungsaufbau an Thriller von Ursula Poznanski erinnert. Zwar berührt der Text in Teilen auch Fragen nach der Entwicklung von Künstlichen Intelligenzen und reflektiert, wo hier Gefahren liegen, dies aber höchstens in Ansätzen. Vielmehr konzentriert er sich auf eine dynamische, schnelle Handlung, einfache Erzählmuster und triviale Figurenkonzeptionen. Denn vor allem geht es um den Wettlauf mit der Polizei, den Lydia und Henry sich liefern. Die Sprache ist einfach, die Sätze kurz. Es geht weder um den Einblick in Trauerprozesse einer traumatisierten Jugendlichen noch um Reflexionen über mögliche Zukunftsperspektiven, die sich aus der Entwicklung Künstlicher Intelligenzen ergeben, sondern einzig um allein um eine auf Aktion abgestellte, schnelle Handlung. Die Rückblicke auf den Unfalltod des Bruders finden sich zuweilen am Ende der Kapitel und sind durch Kursivdruck von der Erzählgegenwart abgesetzt. Auch die Geschwisterbeziehung erscheint hier lediglich als handlungsauslösendes Element zu fungieren – diese und alle anderen Figurenkonstellationen bleiben, wie die Figuren selbst, statisch und eindimensional, erschöpfen sich in stereotypen Platzhaltern und Floskeln. Auf diese Weise sind sowohl der Tod des Bruders als auch Lydias Erinnerungen an den wirklichen Henry beschrieben:
Grashalme kitzeln zwischen meinen Zehen. Der Garten versinkt in einem Meer aus Ringelblumen und Hahnenfuß. Henry nimmt meine Hände und fängt an, im Kreis um mich herumzulaufen, sodass ich keine andere Wahl habe, als mich zu drehen, schneller und immer schneller. Ich wirble um meine eigene Achse, um mit ihm mitzuhalten. Er lacht und seine sommerhimmelblauen Augen strahlen, als er hochspringt und sich von mir herumschleudern lässt. (S. 140)
So setzt der Text mehr auf einfache Identifikation und typenhafte Figuren denn auf Mehrdeutigkeit und tiefere Reflexion. Ein Verriss soll dies dennoch nicht sein. Denn als Kriminalroman oder Thriller funktioniert das Jugendbuch durchaus gut. Um wieder einmal klassische Beurteilungsfloskeln heranzuziehen: Man kann das Buch nicht mehr weglegen, die Story hat trotz der Eindimensionalität Sogwirkung und vor allem das überraschende Ende, das ja hier nicht offenbart werden soll, hat es in sich.
Fazit
Wer Reflexionen über die Gefahren sucht, die der Ausbau künstlicher Intelligenzen evozieren kann, wird enttäuscht, wer dagegen nach spannenden Thrillern im Jugendsektor Ausschau hält und vielleicht 14- bis 16jährigerFan von Ursula Poznanski ist, wird begeistert sein von Naomi Gibsons jugendliterarischem Debüt: Eine Nacht durchlesen, Spannung und Nervenkitzel sind garantiert!
- Name: Gibson, Naomi
- Name: Köbele, Ulrike