Inhalt
Berlin, im Jahr 2020: Bei Recherchen in einem Berliner Archiv entdeckt der Historiker Thomas Harding (der sich im Dienste der Herausgeberfiktion im Vorwort zu erkennen gibt) eine Kiste mit Notizbüchern und Postkarten, die offenbar aus dem Jahr 2050 stammt. Erst ist er ungläubig, findet aber bei einer Authentizitätsüberprüfung nichts, was auf eine Fälschung hinweist. So beschließt er, die Aufzeichnungen zu veröffentlichen.
Die Notizbücher enthalten Protokolle mehrerer Interviews der zum Zeitpunkt knapp 15-jährigen Billy Schmidt mit ihrer fast 110 Jahre alten Großmutter Nancy. In den Interviews erzählt diese von den wichtigsten Ereignissen der vergangenen Jahrzehnte, beginnend mit den 2020er Jahren. Sie berichtet davon, wie die Klimakatastrophe das Leben auf der Erde immer schwieriger macht, bis hin zum Höhepunkt der Klimakrise im Jahr 2029, der die Weltbevölkerung dazu zwingt, ihre Lebensweise radikal umzustellen. Billy erzählt aber auch von medizinischen Durchbrüchen, von sich neu formenden Lebensweisen in neuen Megastädten mit "City Towers", die zehntausende Menschen beherbergen können – und von einer zunehmend totalitärer werdenden Welt, in der eine Weltregierung das Leben ihrer Bürger bis in den letzten Winkel durchleuchtet.
Durch den Dissidenten Benji erfährt Billy, dass es die Möglichkeit gibt, eine Zeitkapsel mit Hilfe von Quantentechnologie in die Vergangenheit zu schicken. Diese Möglichkeit will sie nutzen, um die Menschheit vor ihrem eigenen Schicksal zu warnen: "Bitte, ändert Euer Verhalten. Jetzt! […] Schützt unsere Gegenwart, bevor es zu spät ist." (186)
Kritik
Future History 2050 setzt ein Gedankenexperiment um: Was wäre, wenn uns Menschen aus der Zukunft davon erzählen könnten, wie sich das Leben auf der Erde entwickeln wird, sodass wir noch Zeit haben, um rechtzeitig die Weichen zu stellen? Dieser Gedanke (und der Machbarkeitsgedanke, der ihm innewohnt) ist zugleich ironisch: Denn wir verfügen ja bereits über einen – wissenschaftlich extrapolierten – Blick in die Zukunft bzw. mögliche Zukunftshorizonte, es interessiert nur zu wenige Menschen hinreichend.
Future History 2050 reiht sich ein in das Genre der Zukunftsdystopie, dockt dabei auf originelle Weise aber an verschiedene literarische Traditionen an: Durch das Spiel mit der Herausgeberfiktion (im deutschsprachigen Raum zuletzt populär umgesetzt von Walter Moers, der als Übersetzer und Herausgeber seiner Zamonien-Romane fungiert), durch die Modifikation des Motivs der Zeitreise, sind es hier doch Dokumente, die als eine Art reverse Zeitkapsel ihren Weg in die Vergangenheit finden, um die Welt zu retten (oder wenigstens ein bisschen bewohnbarer zu halten). Originell ist auch der Kniff, dass es mit Billys Großmutter eine unserer Zeitgenossinnen ist, eine Frau, die im Jahr 2020 knapp 80 Jahre alt ist, die uns Lesenden aus der Zukunft gleichsam zuruft, wie es uns ergehen wird.
Future History 2050 spielt sich auf drei Zeitebenen ab: In der Rahmenhandlung fungiert die homodiegetische Erzählinstanz "Thomas Harding" als Herausgeber der Dokumente aus dem Zukunftsarchiv, die wiederum auf zwei miteinander verzahnten Binnenebenen angesiedelt sind. Zum einen gibt es die Protokolle der Erinnerungen der Großmutter, zum anderen die zumeist ein bis zwei Seiten kurzen Kommentare ihrer Enkelin zu den einzelnen Abschnitten. Dadurch entsteht auch ein dreifacher Dialog, in den wir als Lesende eingebunden werden, denn wir sind zweifache Zeitgenossen – die des Archivforschers und die der Großmutter, die – wie skizziert – gleichsam stellvertretend für uns in der Zukunft lebt und ihre Eindrücke in Form von Lebenserinnerungen "zurücksendet". So konstruiert dies aus analytischer Perspektive klingt, so überraschend gut funktioniert es bei der Lektüre.
Der britische Politjournalist und Schriftsteller Thomas Harding hat sich als Journalist bereits mit US-amerikanischen Behörden angelegt und u.a. ein Buch über seinen jüdischen Verwandten Hans Alexander geschrieben, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs NS-Verbrecher wie den Auschwitzkommandanten Rudolf Höß aufspürte. Mit Future History 2050 ist ihm ein interessantes Experiment im Metier der Nachhaltigkeitsliteratur gelungen. Dass es funktioniert, dazu trägt auch die intelligente Ausstattung des Buchs bei, für die der Grafikdesigner Florian Toperngpong verantwortlich ist: Collagen, "Abbildungen" einzelner "Dokumente" aus dem Archiv, Abbildungen von Artefakten, die in den Aufzeichnungen erwähnt werden, untermauern die Archivarbeit des fiktionalen Archivars "Harding" und kommentieren den Dokumentcharakter des Buchs auf metafiktionaler Ebene.
Was Future History 2050 sehr gut gelingt: Es kombiniert, Kapitel für Kapitel, verschiedene gesellschaftliche, politische, kulturelle Aspekte der imagined futures zu einem insgesamt stimmigen Alltagsbild. Und vor allem erzählt der Band vom Alltagsleben in einer totalitären Gesellschaft, denn die Weltgesellschaft, die hier skizziert wird, ist in ihren Einzelbestandteilen totalitär. Das Leben geht in ihnen weiter. Und es kann – so klingt es in Billys Kommentaren zumindest an – auch ein gutes Leben sein, innerhalb der Grenzen, die in ihr gezogen werden.
Fazit
Dass das Buch Appellcharakter hat, zeigt sich an der expliziten Aufforderung am Ende. Future History 2050 ist eine fiktionale Warnung aus der Zukunft, die aus den jetzt bereits erkennbaren planetaren und gesellschaftlichen Entwicklungen eine zukünftige Welt projiziert, in der wir eben lieber nicht leben wollen. Das ist alles ein bisschen vorhersehbar gestrickt, liefert Leserinnen und Lesern ab etwa zwölf Jahren aber jede Menge Gedankenfutter – und eine in sich stimmige Grundidee.
- Name: Harding, Thomas
- Name: Jacoby, Edmund
- Name: Toperngpong, Florian