Inhalt 

Die Nacht so groß wie wir handelt von den fünf Freunden Maja, Suse, Bo, Pavlow und Tolga. Alle haben unterschiedliche Persönlichkeiten und Charakterzüge, sind aber trotz dieser Andersartigkeit langjährige Freunde. Alle außer Bo, der eine andere Schule besucht, sein Abitur nicht geschafft hat und seine Freunde nur zu ihrer Abiturzeugnisverleihung begleitet, erhalten ihre Abiturzeugnisse. In der ,Penne‘, ihrer Stammkneipe, am Tisch ,,hinten links in der Ecke“ (S. 20) beschließen die Freunde, dass diese Nacht etwas Besonderes sein müsse, bevor jeder von ihnen einen neuen Weg ,,in das Erwachsenenleben“ (S. 9) geht. Sie beschließen, diese letzte Nacht gemeinsam zu durchleben: ,,Das ist die Nacht in der wir sterben müssen. Vom Ungeheuer verschlungen und dann wiedergeboren.“ (S. 23)

Im Laufe der Nacht stellen sich die Freunde ihren persönlichen Herausforderungen: Pavlow lässt z. B. der Wut auf seinen Vater freien Lauf und zerstört dessen Einrichtung sowie die Fotos der neuen Familie, um die sich der Vater scheinbar mehr sorgt als um den Sohn aus erster Ehe. 

Während eines Streits in der Gruppe wird nicht nur Suses Liebes-Chaos offenbar, sondern auch, dass Maja die Ergebnisse der Vorbereitungen für den Abiball verfälscht hat. Pavlow ermutigt Tolga vor allen Leuten in der Turnhalle zu sagen, was er wirklich denkt – beides hat Tolga bislang nie getan und schweigt auch beim Versuch auf der Bühne.

Am Ende der Nacht ist Pavlow nicht mehr Teil der Gruppe, nachdem er Suse bedrängte und sie sich von ihm befreien musste. Nur Maja, Suse und Bo sitzen auf den Stufen der ‚Penne‘, da auch Tolga zuhause ist. Keiner weiß, was die Zukunft bringt, denn: ,Noch wissen wir nicht. Wohin wir uns setzen sollen.“ (S. 188)

Kritik

Jäger bietet mit Die Nacht so groß wie wir einen vielschichtigen Jugendroman, der eine authentische Geschichte von fünf Jugendlichen erzählt, die allesamt vor einem großen Umbruch ihres Lebens stehen.

Ein besonderes Mittel von Jägers Erzählart, die den Roman so immersiv und nachvollziehbar macht, wie er ist, sind die verschiedenen Erzählinstanzen und ihr jeweiliger Erzählton, wobei auch grundsätzlich zu sagen ist, dass Jäger die Sprache von Jugendlichen nachvollziehbar einfangen kann, was ihr nicht durch bspw. die Jugendwörter des Jahres gelingt, sondern durch einen authentischen Schreibstil, der auch Flüche, unangenehme Situationen und eine Vielzahl an Perspektiven zulässt: 

« Oder lässt du mich nur in dein Herz, wenn ich dich vögle? Hat es so bei Nastja funktioniert? Die vögelt dich, und dafür lässt du sie in dein Herz. Dafür zieht sie nach Hamburg, weil sie dich vögelt. » Seine Faust löst sich auf, jetzt sind seine Fingerspitzen auf meiner Haut, streichen das Brustbein auf und ab, und bis zu den Nähten meines BHs. (S. 175)

Anders als in vielen anderen (Jugend-)Romanen beschränkt sich Jäger nicht auf einen Erzählenden, sondern nutzt fast alle Protagonisten und Protagonistinnen als Erzählende und schafft so eine multiperspektivische Anlage. Dies wird zum einen durch die Titel der einzelnen Kapitel unterstrichen, die nach der jeweiligen erzählenden Hauptfigur benannt sind, wobei der Roman ohne ein Inhaltsverzeichnis auskommt, was nicht nur für langjährige Lesende, sondern auch für Jugendliche, die ggf. nur Bücher aus der Schule oder eher klassisch strukturierte Werke kennen, eine erfrischende Abwechslung darstellen kann. Zum anderen erzählen alle Figuren ihre Sicht der Nacht auf unterschiedliche Weise, was besonders deutlich wird, wenn Situationen erneut von einer anderen Figur erzählt werden. Dadurch haben die Figuren jeweils keinen Einblick in das Innere der anderen und können nur Verhaltensweisen deuten:,,Pavlow klopft abwechselnd mit Daumen und Ringfinger auf die Tischplatte, das macht er ständig, und dann weiß man, dass er sich gerade erst warm denkt.“ (S.20) Allerdings werden die Gefühle und Gedanken der erzählenden Figur sowie ihre Sicht der Dinge besonders zugänglich und für die Leserschaft nachvollziehbar, was als zentrales Merkmal des Romans bezeichnet werden kann. Dies wird besonders deutlich, als Maja ihre sonst präzise und intellektuelle Art vernachlässigt und ihren Kuss mit Bo genießt:

Mein Über-Ich hat Sendepause. Mag sein, dass es nur an dieser Nacht liegt, weil es die letzte ist. Niemandsland. Seine Zungenspitze und meine, wir küssen uns im Niemandsland. Noch Zeit bis zum Morgengrauen. Sehen schon … was? Den Grenzübergang. Bos warmer Atem, sein Mund berührt meinen Hals. Bald bin ich Tausende Kilometer entfernt. Wie viele genau? Egal. Osaka irgendwo. Wattewolken am Himmel. Alles ist weich, meine Gedanken und seine Haut. Und wieder mein Mund und seine Lippen. Dinge sind einfach mit Bo. Sie bedeuten etwas, aber sie bedeuten nicht zu viel. Bo und ich im Paradies. (S. 96)

Insgesamt sind die Figuren vielseitig und drücken mit ihrer Erzählweise ein Stück ihrer Persönlichkeit aus, was auch bei Tolga deutlich wird, der in keinem Kapitel selbst erzählt, was dazu passt, dass keiner der Freunde seine Gedanken durchdringen kann, oder bei Suse, die viele Situationen mit den Geschichten anderer Menschen verbindet, die sie gehört hat. Diese vielfältige Erzählweise der Figuren, ihre individuelle Art sowie die für alle Protagonisten und Protagonistinnen verwendete Ich-Erzählperspektive, lassen die Lesenden nicht nur stärker in die Geschichte eintauchen, sondern zeigen vor allem, dass das, was ihre Persönlichkeit ausmacht, in Ordnung ist: Es ist egal, ob man selbst eher still, extrovertiert, offen, klug oder sonstiges ist, was durch die unterschiedliche Art der Figuren und ihre dennoch existierende Freundschaft betont wird. Auch die unterschiedlichen Ziele und bevorstehenden Lebenswege der einzelnen Figuren zeigen, dass man nicht unbedingt das Abitur abschließen muss oder besondere Pläne haben muss (aber kann!), um von anderen akzeptiert und wertgeschätzt zu werden.

Besonders für Jugendliche in der Pubertät und für die Lebenswege, die diese teilweise schon mit 15/16 Jahren durch die Ausbildung einschlagen, bietet die Geschichte der fünf Freunde die Möglichkeit, das eigene Leben zu reflektieren, an die Menschen zu denken, die sie auf dem Lebensweg getroffen haben und mit denen sie Erfahrungen verbinden. Dies kann besonders jugendlichen Lesenden helfen, sich selbst besser kennenzulernen und die Entwicklungsaufgabe der eigenen Identitätsbildung besser zu bewältigen. 

Fazit

Die Nacht so groß wie wir fängt als Jugendroman bewusst die sich wandelnde Welt der Jugendlichen ein. Es wird deutlich, dass es nicht DEN Jugendlichen gibt, sondern, dass Vielfalt, unterschiedliche Persönlichkeiten und Lebenswege in Ordnung sind. Jäger fängt die Welt der Jugendlichen durch einen authentischen Schreibstil, relevante Themen und vielfältige Persönlichkeiten ein und regt dazu an, sich auch mit der eigenen und mitmenschlichen Persönlichkeit als Teil der Identitätsfindung auseinanderzusetzen. 

Durch den jugendsprachlichen Schreibstil, durch die Multiperspektivität, die Rückblenden, den Verzicht auf eine klassische Kapiteleinteilung und durch die erzählten Erfahrungen, die zum Teil auch Unangenehmes (wie Belästigung, Krankheit oder Ausgrenzung) integrieren und durch das Thema des Buches, den krisenhaften Übergang von der Jugendwelt in ein neues Leben, ist für diesen Roman ein Lesealter ab 14 Jahren zu empfehlen. 

Titel: Die Nacht so groß wie wir
Autor/-in:
  • Name: Jäger, Sarah
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Rowohlt
ISBN-13: 978-3-499-00574-9
Seitenzahl: 192
Preis: 18,00€
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre
Jäger, Sarah: Die Nacht so groß wie wir