Inhalt

Jakob bekommt gerade so ein „Ja“ heraus, als Charlotte – Lotti – aus der 10a fragt, ob er mit ihr verreisen will. Überwältigt von ihrem Anruf galoppiert sein Herz, er fühlt sich wie Groom aus dem Videogame Shift of Power, der alle seine Gegner zu zerlegen vermag. Durch den Kurztrip kann er seinen älteren Zwillingsbrüdern entfliehen, die ihn ständig aufziehen, sowie seinem Vater, der Jakob für einen ‚Schlappschwanz‘ hält. Lotti will mit ihm von Hamburg zum Château wandern, weil sie in ihm einen Beschützer sieht, der sich ihr nicht aufdrängen wird. Sie findet Jakob lustig, ihn jedoch plagen Selbstzweifel und Panikattacken. Als sie an einem See rasten und Lotti ins kühle Nass springt, überkommt ihn allein beim Gedanken, es ihr gleich zu tun, Angst. Er schämt sich für seine Beinbehaarung und die abgetragenen Boxershorts. Entsprechend eigentümlich verhält er sich in dieser Situation, was Lotti wiederum zum Lachen bringt. Doch auch Lotti, die für Jakob wie ein Sonnenstrahl ist, wird von Ängsten und Launen heimgesucht. Ewig fühlt sie sich getrieben, Bestnoten erreichen und die richtigen Entscheidungen für ihre Zukunft treffen zu müssen.

Ihre Wanderung wird dadurch zu einer emotionalen Achterbahnfahrt, aber auch weil sie unterschiedlichsten Menschentypen begegnen und witzige, verwunderliche, magische, bedrohliche, traurige und nachdenkliche Momente erleben. So werden sie bei den Yarn Rebels, strickenden Umweltaktivisten, Teil einer Baumbesetzung und können auf kuriose Weise den lästigen Lotti-Verehrer Keil loswerden. Durch den krebskranken Teenager Ben, der seine Do-before-die-Liste lebt, erkennen sie, wie wertvoll Leben ist, mit dem sich Lotti und Jakob oft schwer tun. Für dieses brauchen sie weder ‚normal‘, noch ‚perfekt‘ zu sein. 

Kritik

Mit Liebe sich, wer kann erweitert die Autorin Annette Mierswa, deren Kinderbuch Lola auf der Erbse 2014 verfilmt wurde, ihre seit 2018 im Loewe Verlag bestehende Jugendbuchreihe, die gezielt Themen fokussiert, die besonders aber nicht nur Jugendliche betreffen oder aktuell bewegen. Während Instagirl (dt. Ersterscheinung 2018) (körperliche) Selbstdarstellung und -wahrneh-mung in den sozialen Medien und Wir sind die Flut (2020) Klimaaktivismus beleuchtet, führt Liebe sich, wer kannbereits im Klappentext den siebzehnjährigen Jakob als eine scheinbar ständig von Angst, Panik und Depression übermannte Figur ein. Dass der Ich-Erzähler unter dem großmäulerischen Auftreten seiner Brüder und dem daueraggressiven Verhalten seines arbeitslosen Vaters leidet, wird durch Jakobs Gedankenrede und kurze Dialoge mit den Geschwistern gleich im ersten von sechzehn Kapiteln deutlich. Wie seine vor allem bis zur Romanmitte vorgenommenen, teilweise kursiv oder in Versalien gesetzten Reflexionen immer wieder andeuten, vermag er ihren verbalen und körperlichen Übergriffen keinen Widerstand zu leisten. Seine Hilflosigkeit kann er auch nicht durch seine Mutter überwinden, obwohl er erkennt, dass sie ihm als einzige mit Achtung und Liebe begegnet, ihn bestärkt, unterstützt und schützt, so gut es ihr möglich ist. Vielmehr hat er gelernt, Launen, Unzulänglichkeiten und Erniedrigungen, die der männliche Teil seiner Familie sowie Schulkameraden ihm gegenüber ausleben, durch ihn verursacht zu begreifen. Fortwährend lässt ihn sein „innerer Grübel-Generator“ (S. 52, Herv. im Original) Blicke, Gesichtsausdrücke, Gesten, Verhaltensweisen, Handlungen und Aussagen anderer überdenken, was „eigentlich immer zu Schlussfolgerungen [führte], die mich wie einen Idioten erschienen ließen, der es nicht wert war, beachtet, geschweige denn geliebt zu werden.“ (S. 53) Seine Selbstvorwürfe, die an einigen Romanstellen nicht weit vom Selbsthass entfernt scheinen, mögen für einige Leserinnen und Leser nicht (immer) nachvollziehbar, streckenweise gar unerträglich sein. Wer jedoch selbst mit einer sozialen Angststörung zu kämpfen hat oder mit ihr vertraut ist, weiß unter welcher permanenten Anspannung und Beklemmung Betroffene leiden, die glauben, in sozialen Situationen vermeintlich wahrgenommenen oder tatsächlichen Erwartungen nicht genügen zu können. Selbst in banalen Alltagssituationen fühlt sich Jakob nicht nur ständig kritisch von unbekannten wie vertrauten Menschen beobachtet und verurteilt, sondern beobachtet sich selbst scharf und verurteilt gnadenlos sein vermeintliches Unvermögen, sozial angepasst funktionieren zu können. Als die erste Nacht im Zelt ansteht und Lotti sich plötzlich im Freien in ihr Buch verkriecht, schlagen seine Gedanken auf ihn ein: 

Wie konntest du dich heute Morgen nur dermaßen gut fühlen, obwohl du so ein Loser bist? Du denkst doch nicht wirklich, dass du Lotti beschützen kannst? […] Es scheint ihr gerade nicht gut zu gehen. Das ist bestimmt deine Schuld. Wahrscheinlich will sie nicht ins Zelt kommen, weil sie dann neben dir liegen muss. Bilde dir bloß nicht ein, sie könnte dich mögen. Am besten wäre es, wenn du gar nicht da wärst, du Schlappschwanz. (S. 95, Herv. im Original)

Das selbstanklagende Zwiegespräch, das Jakob mit sich in der Du-Perspektive führt, fließt mit jener abwertenden Sicht zusammen, die sein Vater ihm gegenüber zeigt. Dessen Fremdwahrnehmung hat der Schüler bereits als Selbstwahrnehmung internalisiert. 

Aufgrund der Erzählperspektive lässt sich lange nur durch Jakobs Beschreibungen vermuten, warum Lotti eine Wanderung zum Château unternimmt. Je mehr diese voranschreitet, desto mehr wird durch die vielen Gespräche der Hauptfiguren klar, dass sich hinter der unbeschwert und selbstbewusst wirkenden Einser-Schülerin und Schulsprecherin eine von Leistungsdruck, Selbstzweifeln und Zukunftsängsten gepeinigte Jugendliche verbirgt, die ihre Seelenmonster kaum noch medikamentös im Zaun halten kann. Um sie ohne Tabletten bewältigen zu können, soll ihr das Château helfen, das sich für Jakob und die Leserschaft erst am Romanende als psychiatrische Jugendklinik konkretisiert. 

Neben dem Wissen um Lottis psychische Belastungen wirkt für Jakob vor allem ihr lockerer Umgang heilend, die von ihm empfundene Peinlichkeit seines Verhaltens durch vorurteilsfreie Offenheit und ein Lachen als solche zu entschärfen, ohne sich darüber lustig zu machen. Dadurch, dass sie ihn so annimmt, wie er ist, wächst sein Vertrauen zu Lotti und die Liebe für sie, die bei ihm nicht nur Knoten der Angst und des Versagens in Hals, Brust und Bauch lösen. Sie lassen ihn zunehmend auch mutiger werden. Um die Romanmitte gelingt es ihm, die beschriebene selbstzerfleischende Tortur zu durchbrechen, als er sich zum ersten Mal selbstbehauptet und deutlich von sich weist, für Lottis ständigen Gefühls- und Launenwechsel verantwortlich zu sein. 

Obwohl der Roadtrip die psychisch labilen Protagonisten ganz deutlich mit ihren Unsicherheiten und Ängsten konfrontiert, wirkt Liebe sich, wer kann nie bedrückend, auch wenn die Episode mit dem totkranken Ben sowie jene mit Gunda und ihrem wachkomatösen Sohn nicht nur Jakob und Lotti nachdenklich innehalten lassen. Diese berührenden Szenen vermag die Autorin ohne wehleidiges Pathos mit leisem Humor angemessenen zu inszenieren, ohne ihre Tragik zu unterlaufen. Auch gelingt es ihr, sich bei Jakob anbahnende Angstmomente und Panikzustände in Situationen münden zu lassen, die auf Lotti und die Leserschaft witzig wirken und ein Lachen provozieren, ohne ihn und seine psychische Belastung ins Lächerliche zu ziehen. Die Schwere dieser Thematik kann Mierswa so, auch sprachlich, gekonnt durch Situationskomik, kuriose Begegnungen und unerwartete Wendungen ausbalancieren.      

Das bewusste pädagogische Anliegen des Romans, das bereits der Titel mit dem zweifach lesbaren Imperativ andeutet, wird durch das Nachwort bekräftigt. Mierswa, auch als psychologische Beraterin und Trainerin für Poesie- und Bibliotherapie [1] ausgebildet, ermutigt ausgehend von eigenen Erfahrungen, sich mit allen Ecken und Kanten anzunehmen bzw. Hilfe zu suchen, wenn der „Blick auf [s]ich selbst zu negativ [wird]“ (S. 239). Eine kleine Auflistung an ersten Hilfsangeboten im Internet und Buchempfehlungen komplementiert ihre Intention. Durch die Reise mit Lotti und die Liebe beider füreinander beginnt Jakob am Romanende, diesen Weg der Selbstakzeptanz einzuschlagen – wohlwissend, dass jene nie garantiert ist. Im Motto seines Gamecharakters Groom, mit dem Jakob auch Lotti Mut zuspricht (vgl. 92) und das den Roman als Epigraph eröffnet bzw. ihn in abgewandelter Form schließt, kondensiert sich dieser Appell, mit sich selbst nachsichtiger zu sein und losgelöst vom Glauben an ein vermeintliches Normal- oder Perfektsein seinen eigenen Weg zu finden und zu gehen:  

Solange ich lebe,

geb ich das Beste.

Kein Weg ist der falsche, 

ein Baum hat viele Äste. (S. 5)

Fazit                                                                   

In Liebe sich, wer kann, das 2022 auf der Shortlist des DELIA-Literaturpreises „Junge Liebe“ stand, schickt Mierswa mit Jakob und Lotti zwei psychisch außergewöhnlich belastete Jugendliche auf eine Reise zu sich selbst und zueinander. Erzählerisch und sprachlich gelungen kann sie Einblick in ihre Ängste und deren Ursachen geben und zugleich einen Roadtrip mit vielen abwechslungsreichen, heiteren bis nachdenklichen Episoden inszenieren, der das Jugendbuch in die Nähe von Tschick (dt. Ersterscheinung 2010) oder Kurve kriegen – Roadtrip mit Wolf (2020) rückt. Da der Roman Mobbing, soziale Angststörung, Leistungsdruck, Burn-out, Zukunftsängste und Depressionen bei Jugendlichen, aber auch Freundschaft und Liebe thematisiert, und daher für Leserinnen und Leser ab 12 Jahren empfohlen wird, bietet der Loewe Verlag zu diesem auch schulpädagogisches Material für den Einsatz im Unterricht an.  

Literatur

[1] Mierswa, Annette: Über mich. http://annette-mierswa.de/ueber-mich/ (24.09.2022).

Titel: Liebe sich, wer kann
Autor/-in:
  • Name: Mierswa, Annette
Erscheinungsort: Bindlach
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Loewe
ISBN-13: 978-3-7432-1212-1
Seitenzahl: 240
Preis: 6,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Mierswa, Annette: Liebe sich, wer kann