Inhalt

Die letzten Tage und Wochen des Zweiten Weltkriegs wimmeln vor grausamen Ereignissen, denen angesichts der unmittelbar bevorstehenden Friedenszeit eine besondere Form der Widerwärtigkeit und Unfassbarkeit anhaftet. Zu diesen zählen die sogenannten „Endphaseverbrechen“, in denen fanatische Nationalsozialisten beispielsweise auf Todesmärschen KZ-Insassen in den sicheren Tod schickten, sogenannte „Wehrkraftzersetzer“ willkürlich umbrachten oder in Himmelfahrtskommandos steckten – oder kurz vor Einmarsch der Alliierten vor Ort noch so viele Widerständler wie möglich hinrichteten. Eine solche Racheaktion ereignete sich in der Mordnacht von Penzberg vom 28. auf den 29. April 1945: Als die antifaschistischen Stadtbewohner angesichts des bevorstehenden Einmarsches der Alliierten die Verwaltung der verschlafenen südbayerische Bergwerksstadt übernahmen, wurden 16 von ihnen kurzerhand von nazistischen Überzeugungstätern aus “Werwölfen” (einer Untergrundorganisation, die auch nach dem Fall des Dritten Reichs die Besatzung unterwandern wollte) und Angehörigen von Wehrmacht und SS öffentlich hingerichtet – einen Tag, bevor US-Truppen in der Kleinstadt eintrafen.

Um die Penzberger Mordnacht, die im kulturellen Gedächtnis der NS-Zeit bisher kaum eine Rolle spielte, dreht sich Kirsten Boies Erzählung Dunkelnacht. Auf Grundlage intensiver Recherchen vor Ort erzählt sie die dramatischen Stunden nach, wobei die erzählte Zeit sich vom Abend des 27. April bis zum Vormittag des 29. April erstreckt. Im Fokus stehen die (fiktionalen) Jugendlichen Schorsch, Gustl und Marie. Beide Jungen sind in Marie verliebt, deren Vater zu Beginn der Handlung mit anderen linksgerichteten politischen Kräften die Verwaltung der Stadt an sich nimmt. Gustl ist fanatisch der NS-Ideologie verfallen und will bis zum letzten Atemzug gegen den „Feind“ kämpfen, sodass er sich auch dem Lynchmob der „Werwölfe“ anschließen wird. Das NS-Weltbild des Polizistensohnes Schorsch bröckelte hingegen schon seit einiger Zeit – und angesichts der Geschehnisse letztlich vollkommen.

Über ihre Eltern sind die Jugendlichen verwoben mit den Ereignissen der folgenden Stunden, die abwechselnd aus der Perspektive der Jugendlichen und verschiedener Erwachsener auf beiden Seiten berichtet werden. Am Ende bleiben viele tote Menschen, eine Stadt, deren Sozialgefüge auf Jahrzehnte hinaus zerstört ist – und auf beiden Seiten die Fassungslosigkeit gegenüber dem, was passiert ist.

Kritik

Im dokumentarischen Duktus, in einem bewusst nüchternen Tonfall arrangiert Boie auf den 128 Seiten von Dunkelnacht ein Kaleidoskop der Ereignisse der Mordnacht, ergänzt um ein ausführliches Nachwort und ein Glossar zu einschlägigen Begriffen. Konsequent sind die Teilkapitel intern fokalisiert, wir lesen von den inneren Monologen der Figuren, die teils aktiv am Geschehen mitwirken, teils zunehmend fassungslose und doch machtlose Beobachtende sind. Boie übernimmt dabei die Sprache, das Denken der jeweiligen Figuren, und sie beschreibt das Geschehen in brutalen – und für jugendliche Lesende auf jeden Fall verstörenden – Details. So spürt Gustl, der Überzeugungstäter, am eigenen Leibe, wie sich die Realisierung seiner Mord- und Rachephantasien anfühlt:

Der Gustl hat sich übergeben. War ja noch nie dabei, wenn ein Genick bricht, das wilde Zappeln sekundenlang, bevor es zu Ende ist, bis die Zunge aus dem Mund hängt, das Gesicht blau wird. So also ist der Tod. So ganz ohne Würde. Und dann schon der Nächste, der Nächste […] Er hat sie gekannt […] Waren alle Verräter. Und waren doch auch Volksgenossen, waren deutsche Volksgenossen. Waren keine Jungen, keine Untermenschen im Osten, waren Deutsche. So hat er es sich nicht vorgestellt. (S. 97)

Gerade auf Grund dieser Details, auf Grund des nüchternen Tonfalls, auf Grund der Übernahme wechselnder Perspektiven, auf Grund der Kürze des Texts ist Dunkelnacht eine zutiefst verstörende Lektüre. Sie berichtet nicht von den auf Grund ihres schieren Umfangs monströsen Ereignissen und Taten der Judenermordung, sie berichtet nicht vom Schlachtfeld an der Front, sondern von einem Ereignis, dessen 16 Tote angesichts der Abermillionen Opfer des Zweiten Weltkriegs geradezu vernachlässigbar wirken. Und doch entfaltet gerade der Mikrokosmos der Grausamkeit, dem Boie sich hier widmet, eine ganz eigene Wirkung. Die Penzberger Mordnacht (und Boies Art der literarischen Aufbereitung) wirkt wie ein Brennglas auf die Unmenschlichkeit des Dritten Reichs, auf den Maelstrom der Bösartigkeit, den das Hitlerregime entfacht hat.

Fazit

Die Art der Umsetzung macht Dunkelnacht geradezu zur Pflichtlektüre im Geschichtsunterricht bzw. zur Pflichtlektüre für alle, die sich für die literarische Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs interessieren. Und doch ist die Lektüre nicht für jede*n: Ab 15, 16 Jahren würde ich die Lektüre empfehlen; und auch dann sollte im Vorfeld klar kommuniziert werden, was auf die Lesenden zukommt.

Diese Rezension ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der AJuM (Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und -medien der GEW) und KinderundJugendmedien.de entstanden. Die vorliegende Rezension ist eine erweiterte Fassung der AJuM-Rezension des Verfassers.



Titel: Dunkelnacht
Autor/-in:
  • Name: Boie, Kirsten
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Oetinger
ISBN-13: 9783751200530
Seitenzahl: 128
Preis: 13,00
Altersempfehlung Redaktion: 15 Jahre
Boie, Kirsten: Dunkelnacht