Inhalt
Avas Heimatstadt Hamburg droht infolge des steigenden Meeresspiegels in naher Zukunft der Untergang – ein ähnliches Horrorszenario hatten Avas Großeltern in der Hansestadt schon mit der ‚Großen Flut‘ 1962 erlebt. Um ihr Zuhause zu schützen und gegen den Klimawandel zu protestieren, boykottiert Ava die Schule und organisiert mit weiteren Schülerinnen und Schülern ein Camp auf dem kleinen, abgewirtschafteten Bauernhof ihres Mitschülers Kruso: Im Katastrophenfall bliebe der Hof vermutlich vom Wasser verschont und die Gruppe inszeniert den Ort daher als Insel, indem sie sich unmittelbar daneben mit Rettungswesten im selbstgebauten Boot von Kruso filmen.
Die Protestaktion mit dem Slogan „Wir sind die Flut“ bewerben die Schülerinnen und Schüler mithilfe des Youtubers Kenyal über die sozialen Medien und erregen damit unerwartet viel Aufmerksamkeit. So bekommt das Camp zwar großen Zulauf, stößt aber auch auf ebenso großen Widerstand und Ava gerät zwischen zahlreiche Fronten: Sowohl ihre Eltern als auch ihr Schwarm Leon haben weder Verständnis für den Schulstreik noch für ihren Aktivismus. Auch Avas Patenonkel, der mit Krusos Familie konkurriert und einen hochtechnisierten Nachbarhof betreibt, rückt aufgrund seiner umweltschädlichen Praktiken in ein ganz anderes Licht.
Kritik
Die Romanhandlung wird aus Sicht der engagierten Protagonistin Ava erzählt, die stets von ihrer Hündin Poppy begleitet und von ihren Klassenkameraden liebevoll-spöttisch als ‚Biotönnchen‘ bezeichnet wird. Durch Avas Auseinandersetzung mit dem Umwelt-Mensch-Verhältnis werden auch den Leserinnen und Lesern en passant zentrale Fakten über die Klimakrise oder das Thema Nachhaltigkeit vermittelt, wenn sie z. B. für die Schule ein Referat über die Folgen der konventionellen wie industriellen Landwirtschaft halten muss oder ihren geliebten Avocados aufgrund der hohen Emissionsbelastung letztlich abschwört. Zugleich macht die Ich-Perspektive des Romans die starken Emotionen der Heldin erfahrbar, die auf die Untergangsprognose für die Stadt Hamburg mit Zukunftsangst, Ohnmacht, aber auch Wut reagiert: „Ein unheilvoller Gedankenstrudel riss mich mit. […] Warum tut denn keiner was? Verdammt noch mal! […] Ich weinte und Poppy leckte über meine Wange. Hier war alles, was mir etwas bedeutete. Ich wollte meine Heimat nicht verlassen.“ (S. 11-12)
Als Mittlerfigur stellt Ava den Schnittpunkt verschiedener Konfliktlinien dar, die den Roman bestimmen. Bereits auf den ersten Seiten manifestiert sich am Beispiel ihrer Familie der Generationenkonflikt zwischen ‚Generation Z‘ und den ‚Boomern‘.Während Ava sich auf wissenschaftliche Prognosen stützt, bezeichnet ihr vermeintlich rationalistischer Vater sie als „hysterisch“, während die Mutter ihr zur Beruhigung über den Rücken streichelt. Ihre Eltern repräsentieren nicht nur tradierte Rollenmuster, die der Roman leider auch im weiteren Verlauf nicht aufbricht; auch wird Ava in ihrer existentiellen Angst nicht ernstgenommen: „Hallo? Ich bin euer Kind! Ist euch meine Zukunft scheißegal?‘“ (S. 53)
Ava erscheint überdies auch als Mittlerin zwischen sozioökonomischen Milieus. Als Angehörige der Mittelschicht und eng befreundet mit ihrem Schwarm Leon, dem Sohn eines Großbauern, nähert sie sich Kruso an, dessen Familie verarmt ist und mehr schlecht als recht einen kleinen Bauernhof betreibt. Kruso gilt in der Schule als Einzelgänger und Traumtänzer, ermöglicht allerdings das Protestcamp und freundet sich mit gleichgesinnten Aktivistinnen und Aktivisten an. Dementsprechend stellt der Roman eine gesellschaftliche Integration in Aussicht, obgleich Kruso bis zuletzt Außenseiter bleibt.
Recht unkritisch verhandelt der Roman auch den Einsatz sozialer Medien zur Erzeugung von Aufmerksamkeit. So setzt sich der Influencer Kenyal in einer medialen Aktion für die Klimaaktivsten und die Rettung des kleinen Bauernhofs ein und demonstriert seine soziale Macht – eine Aktion, die Ava zunächst skeptisch beobachtet: „[D]ie 720.000 Abonnenten waren Fakt und ich zwang mich, den Beitrag ernst zu nehmen, den er machen wollte, auch wenn es mich höllisch nervte, dass er zwischendurch immer mal wieder Fair-Trade-Produkte filmte, die er wohl in seinem Shop verkaufte […].“ (S. 99) Im weiteren Verlauf des Romans tritt Avas anfängliche Kritik an Kenyals Konsumismus und Vermarktungsideologie jedoch zunehmend in den Hintergrund.
Am problematischsten erscheint aber, dass der Roman hauptsächlich den Jugendlichen eine bedeutende Verantwortung für die Lösung umweltpolitischer Aufgaben zuschreibt und das individuelle Wohlbefinden mit dem Gelingen gesellschaftlichen Handelns verknüpft. Immer wieder kontextualisiert der Roman Avas Weltschmerz mit ihrer politischen Ohnmachtserfahrung. Der Text inszeniert sozialen Kontakt und gesellschaftliches Engagement geradezu als Patentlösungen für eine ‚Heilung‘ des verzweifelten Individuums und lässt Ava in diesem Zuge Ghandi zitieren: „Durfte ich glücklich sein, obwohl unsere kleinen Erfolge die Klimakrise und das Artensterben noch lange nicht aufhalten würden? Ja, ja und ja! Unbedingt. Was hatte denn die Welt davon, wenn ich Trübsal blies? Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst in dieser Welt.“ (S. 219) Achtsamkeits- und Selbstpflegetechniken fungieren als ‚Tranquilizer‘, die von der eigentlichen Tragweite gesellschaftlicher Problemlagen ablenken, zumal sie ‚das kleine Glück‘ schließlich als maßgeblich und erstrebenswert erscheinen lassen.
Dieser Selbstermächtigungs- und Solidarisierungsstrategie wohnt allerdings auch eine gesellschaftliche Utopie inne, die sich zwar auf den ersten Blick recht bescheiden an den Gegebenheiten des herrschenden Systems orientiert, in ihren Grundwerten aber dennoch über die Bewältigung von Umweltproblemen hinausweist. So eröffnet der Roman eine Perspektive eines gleichermaßen sozialen wie liberalen Miteinanders, die sich u. a. in der Unterstützung des verschuldeten Bauernhofs zeigt, der mithilfe eines Crowd-Fundings sowie dem Modell einer sozialen Landwirtschaft gerettet werden kann.
Fazit
Annette Mierswas Jugendroman Wir sind die Flut (2020) thematisiert die Situation junger Umweltaktivistinnen und Umweltaktivisten als Agentinnen und Agenten gesellschaftlichen Wandels. Wie eine Bauanleitung zum friedlichen Protest bemüht sich der Roman um die Aufdeckung gesellschaftlicher Hindernisse und Widerstände und begründet die Relevanz jugendlichen Engagements. Die bildreiche Sprache sowie die Ich-Perspektive von Ava tragen zur Vorstellungsbildung im Diskursfeld Klimaaktivismus bei und machen den Text zugleich spannend, informativ und unterhaltsam. Der mitunter unkritischen, aber vor allem lebensweltnahen Darstellung medialer Realitäten steht die klare politische Positionierung in Umweltfragen und der bestimmende Wunsch nach gesellschaftlichem Zusammenhalt gegenüber. Der Roman wird daher für Jugendliche ab 14 Jahren empfohlen.
- Name: Mierswa, Annette