Inhalt

Trautes Familie hat den Krieg glimpflich überstanden. Die Bäckerfamilie lebt in einer unzerstörten Wohnung, die Gräueltaten und die Lügen der Nazis sind Traute noch immer unbekannt. Doch ein heiles Dach über dem Kopf  und ausreichend Nahrung machen nicht zwangsläufig glücklich. Dem vierzehnjährigen Mädchen fehlen die Schule und die beim Feuersturm auf Hamburg gestorbenen Freundinnen. Außerdem sorgt die Einquartierung einer Flüchtlingsfamilie aus Ostpreußen in der unversehrten Wohnung dafür, dass das Mädchen kaum eine Rückzugsmöglichkeit findet. Traute scheint nirgends hinzugehören und versucht, sich an die in den Trümmern spielenden Jungen des Viertels zu binden.

Diese Jungengruppe wird von Hermann angeführt. Er repräsentiert jene verführte Generation, die in zwölf Jahren NS-Herrschaft in der Ideologie der Nazis erzogen wurde und auch nach dem Kriegsende an die Reinheit und Tapferkeit der Deutschen glaubt. Hermanns Vater hat im Krieg beide Beine verloren. Nun muss Hermann den launischen, verkrüppelten Mann regelmäßig auf die Toilette tragen und wird zuhause immer wieder Zeuge väterlicher Wut und Aggression auch gegen die Mutter, die für die Versorgung der Familie kämpft.

Jakob ist ein jüdischer Junge. Sein Vater ist tot, seine Mutter ist im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert worden. Jakob hält sich seither in einer zerbombten Wohnung versteckt, in die ihn ein alter Mann (offensichtlich nicht aus Nächstenliebe, sondern aus Eigennutz) geführt hat. Der Greis, Jakobs einziger Kontakt zur Außenwelt, verschweigt Jakob das Ende des Krieges, sodass dieser noch im Juni 1945 davon überzeugt ist, sich verstecken zu müssen. Als der Alte nicht mehr auftaucht, um ihm Essen zu bringen, muss Jakob sein Versteck auf der Suche nach Nahrung verlassen. Bei dieser Suche trifft er auf Traute und Hermann.

Kritik

Mit Traute, Jakob und Hermann präsentiert Boie heranwachsenden Jungen und Mädchen drei überzeugende Identifikationsfiguren, deren Perspektiven sich im Roman stetig abwechseln. Diese deutlich markierten Wechsel der Erzählperspektive und die klare, unprätentiöse Sprache ermöglichen ein schnelles Eintauchen in die Gefühlswelten der drei Jugendlichen, deren Geschichten nach und nach verwoben werden. 

Boie erzählt dabei äußerst dicht. Die Handlung erstreckt sich auf nur fünf Tage und in dieser kurzen Erzählzeit verdichten sich über die Einzelschicksale der drei Protagonistinnen zwölf Jahre NS-Regime, die Judenverfolgung und -ermordung, der Opportunismus der deutschen Bevölkerung, Fluchterfahrungen aus dem deutschen Osten, die Bombardierung deutscher Städte, Kriegsverwundung und soldatisches Kriegstrauma, Wiederaufbau und schließlich auch die deutsche Schuldfrage.

Boies Ziel, zu zeigen, wie die unterschiedlichen Jugendlichen zu individuellen Opfern des Krieges werden, ist nachvollziehbar. Dennoch besteht in der Darstellung deutscher Opfererfahrungen neben jüdischen Opfererfahrungen stets die Gefahr, jüdisches Leid zu relativieren. Diesem Aufrechnungsgedanken verwehrt sich der Text jedoch deutlich. Boie lässt die Kinder nämlich selbst die Unvergleichbarkeit von Jakobs Schicksal erkennen, wenn Traute und Hermann langsam begreifen, dass die Nazis die Juden deportiert und umgebracht haben und sie selbst von der Propaganda verführt worden sind: Wenn Traute sagt: „Es ist schrecklich. Das mit diesem Jakob ist schrecklich.“ (S. 155), dann ist dies nicht eine unzulängliche Beschreibung des jüdischen Schicksals, sondern die sprachliche Kapitulation des überforderten Mädchens vor der ihr plötzlich bewusstwerdenden Wahrheit. Und wenn Traute am Ende der Erzählung ihren Blick abwendet von den aus Theresienstadt zurückkehrenden Verfolgten und Jakob tatsächlich seine Mutter wieder in den Armen hält, wird deutlich, dass diese Erfahrung eine absolut singuläre ist, die eben nicht vergleichbar ist mit den deutschen Opfererfahrungen und von keinem Außenstehenden mitempfunden werden kann. 

Die stärkste Wirkung hat dennoch nicht Jakobs Schicksal, sondern Hermanns; wohl auch weil es noch nicht so oft wie das jüdische Schicksal erzählt worden ist. Die aus der Perspektive des deutschen Jungen erzählten Abschnitte überzeugen im Ton durchgehend. So zeigen sich in Hermanns Wortwahl immer wieder die Spuren der nationalsozialistischen Doktrin, die in die Köpfe der Kinder eingebrannt wurde, etwa wenn er über die Kapitulation Hamburgs urteilt: „Kampflos! Das stolze Hamburg! Es war eine Schande. Hatten sie dafür so gelitten? Und ausgerechnet den Tommys, deren Bombern sie all diese Ruinen zu verdanken haben.“ (S. 12) Neben diesen wütenden Parolen über die politische Situation steht Hermanns Verzweiflung, die er als Sohn eines gebrochenen, beinamputierten Kriegsheimkehres täglich zu Hause erlebt und die Boie unmissverständlich zum Ausdruck bringt:

,Danke, ja danke!‘“, hat Hermann gerufen. ‚Damit ist es für dich erledigt! Und wenn ich nachher zurückkomme, bring ich dich wieder runter, nicht? Ist ja ganz klar, der Hermann, der muss das doch tun, ist doch sein Vater, der Hermann…‘ Er hat den Vater hasserfüllt angestarrt. ‚Wie lange soll der Hermann das denn noch? Wo verdammt ist denn da Platz für mein eigenes Leben?‘ (S. 162.).

Mit diesen deutlichen Darstellungen der Verzweiflung, Unsicherheit und den Sehnsüchten der Protagonistinnen und Protagonisten provoziert die Erzählung ein starkes Mitgefühl. Jedem der drei Jugendlichen wünscht man als Leser*in, dass sich ihr Wunsch nach einer friedlichen und freien Zukunft erfüllt. 

Ohne in einen glatten oder naiven Optimismus abzurutschen, versorgt Boie die Leser und Leserinnen am klugen Ende des Romans tatsächlich mit Lichtblicken für die Figuren: Eine Mutter, die auf der Flucht aus Ostpreußen ihr Kleinkind verloren hat, erfährt von den Bemühungen des Roten Kreuzes, die getrennten Familien wiederzusammenzuführen, für Hermann deutet sich eine Möglichkeit an, in die USA auszuwandern und Jakobs Mutter kommt tatsächlich aus Theresienstadt zurück.

Ob mit all den Hoffnungsschimmern etwas dick aufgetragen wird, sei dahingestellt. Natürlich haben die wenigsten Juden die Konzentrationslager überlebt. Doch von jenem Transport nach Theresienstadt sind tatsächlich die meisten Deportierten zurückgekommen. Dieser Fakt sei ihr „unglaublich entgegengekommen“ (https://www.ndr.de/kultur/buch/buchdesmonats/NDR-Buch-des-Monats-Januar-Heul-doch-nicht-du-lebst-ja-noch,heuldochnicht102.html), so Boie. Denn Boie hat nicht nur ein authentisches und gut recherchiertes, sondern auch ein optimistisches Buch schreiben wollen. Dass in eine authentische Geschichte über die Judenverfolgung und die (Nach)kriegszeit solche Lichtblicke eingeschrieben werden können, verdankt Boie also letztlich jenen seltenen wahren Wundern im dunkelsten Teil deutscher Geschichte. Und darum kann sie ihren Roman, den sie nach eigener Aussage auch verfasst hat, um heutige Jugendliche vor einem Rechtsruck und einer Idyllisierung der NS-Vergangenheit zu bewahren, mit dem Satz: „Vielleicht wird wirklich alles gut.“ (S. 177) schließen.

Fazit

Mit Heul doch nicht, du lebst ja noch ist Kirsten Boie ein großartiger Roman über die Nachkriegszeit gelungen, der ohne Aufrechnungsgedanken von der Judenverfolgung und den Opfererfahrungen deutscher Kinder und Jugendlichen im Dritten Reich erzählt. Sie hat drei überzeugende Identifikationsfiguren für Heranwachsende ab 14 Jahren geschaffen und einen erzählerisch durchdachten Text geschrieben, der sich nicht nur als Privatlektüre eignet, sondern unbedingt auch Eingang in die Schulen finden sollte.

Titel: Heul doch nicht, du lebst ja noch
Autor/-in:
  • Name: Boie, Kirsten
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Oetinger
ISBN-13: 978-3751201636
Seitenzahl: 192
Preis: 14,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre
Boie, Kirsten: Heul doch nicht, du lebst ja noch