Kirsten Boie blickt mit ihrer 2021 im Oetinger Verlag erschienenen Novelle Dunkelnacht auf zwei Tage in der Schwebe. Tage, in denen nichts und alles möglich scheint – und in denen gewöhnliche Menschen zu unaussprechlichen Dingen fähig sind. Zwei Tage, die sie, ausgehend von real existierenden Zeugenaussagen und geschichtlichen Fragmenten, für eine jugendliche Leser:innenschaft ab 14 Jahren auf 111 Seiten exklusive Nachwort aufarbeitet. Dafür wurde das Buch 2022 mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Inhalt
27. April 1945, Penzberg, eine Kleinstadt in Bayern. Die Bewohnerinnen und Bewohner spüren, dass der Krieg bald vorbei ist. Einige klammern sich an die Hoffnung auf den „Endsieg“, andere darauf, von den Alliierten befreit zu werden.
Wieder andere, zum Beispiel der 15-jährige Schorsch, der sich zu Anfang noch als Mann bezeichnet und später doch erkennt, glücklicherweise noch ein Kind zu sein, wissen noch nicht sicher, worauf sie hoffen. Aber auf irgendetwas, das ganz sicher.
Als am Morgen des 28. Aprils die Freiheitsaktion Bayern über die regionalen Rundfunksender das baldige Ende des Krieges ankündigt, trauen sich die Menschen langsam an Freiheit zu denken, zaghaft von ihr zu flüstern. Gleichzeitig steht immer die Angst im Raum: Wann? Wie lange dauert es, bis dieses ersehnte „bald“ eintritt?. Boie porträtiert eine Gesellschaft, angetrieben von Hass, Angst, Hoffnung und dem Drang, das eigene Leben zu retten.
Diese Radiobotschaft treibt viele Bewohnerinnen und Bewohner in die Zwickmühle: Einerseits ahnen sie alle, auch diejenigen, die Hitler treu ergeben sind, dass Deutschland den Krieg verloren hat und die Alliierten bald einmarschieren werden, um diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die im Krieg auf Hitlers Seite standen. Andererseits ist das Land noch in der Hand der Nationalsozialisten – und wer diese verrät, wird hingerichtet.
Angetrieben von Hoffnung möchte der 1933 abgesetzte sozialistische Bürgermeister Hans Rummer das Rathaus und damit die Stadt wieder unter seine Führung bringen, um Penzberg einen schnellen und reibungslosen Start in eine friedliche und antifaschistische Zukunft zu bieten. Als die Wehrmacht auf ihrem Weg zur niemals erbauten Alpenfestung an der Kleinstadt vorbeikommt, sieht sie sich allerdings in der Pflicht, die Widerständlerinnen und Widerständler und "Roten" hinrichten zu lassen. Unterstützung bekommen sie dabei von der brutalen Untergrundorganisation "Werwolf".
In der Nacht auf den 29. April werden somit acht Menschen von stark alkoholisierten und sich in Feierlaune befindenden Nationalsozialisten erhängt – an Häusern, und als keine Häuser mehr da sind, auch an Bäumen. Viele weitere werden erschossen. So viele, dass die Anhänger Hitlers irgendwann nicht einmal mehr sicher sind, mit welcher Begründung nun jemand ermordet wird.
All das wird auch über die Schultern der fiktionalen jugendlichen Schorsch, Marie und Gustl betrachtet, zwischen denen sich eine zarte Dreiecksliebesgeschichte andeutet, die jedoch von der Dunkelheit der nächtlichen Ereignisse schnell erstickt wird.
Kritik
Dunkelnacht startet zäh. Die Handlung beginnt so unmittelbar und mit so wirren, fremden Gedanken, dass es zunächst schwerfällt, Fuß in der Geschichte zu fassen oder Sympathie mit den Figuren zu entwickeln. Zu groß ist zunächst die Betrachter:innenperspektive angesetzt, zu weit weg die Geschehnisse, der Blick über die Schulter, mit dem erzählt wird, zu schnell wechselt die Richtung. Zu ungreifbar auch das erzählte Ereignis. Die Figuren, mitten und fest verankert in ihrer Welt, in ihrer Realität, haben und nehmen sich keine Zeit, den Leserinnen und Lesern zu erklären, innezuhalten und das Geschehen angenehm und portionsweise aufzubereiten. Wie Bruchstücke und Fragmente, gleich einer etwas zu fahrigen Tatortfotografie, reihen sich die Momente aneinander und warten darauf, dass die Lesenden sie zusammenfügen. Dieser Gedanke findet sich auch in der Schmuckverzierung der einzelnen Seiten wieder, die am oberen Rand so bedruckt sind, dass sie wie abgerissen wirken. Aufgemacht wie die hastig zusammengetragenen Seiten eines Protokolls unfassbarer Grausamkeit, das über Jahrzehnte verstaubt ist.
Und doch, je weiter die Novelle voranschreitet, desto mehr entwickelt sie eine Spannung, offenbaren sich Zusammenhänge und Momente, in denen die Figuren plötzlich doch nicht mehr so weit weg wirken. Plötzlich finden sich die Lesenden dabei wieder, wie sich die Fingerspitzen plötzlich kalt anfühlen beim Umblättern der Seiten, in Momenten, in denen das Herz stockt, und Übelkeit den Magen hochkriecht. Denn Hoffnung? Für Hoffnung lässt Boie keine Zeit, reißt sie so sehr ein, wie die vierte Wand, um immer wieder deutlich zu machen, dass die Ereignisse, die Figuren, die Geschichte, die erzählt wird, nicht etwa ausgedacht ist, sondern auf einem realen Ereignis beruht. Genau dieses Wissen sorgt dafür, dass sich das dünne, leichte Buch plötzlich unfassbar schwer anfühlt in der eigenen Hand - und auch im Herzen.
Es gelingt der Autorin, die Schwebe, in der sich die Figuren befinden, deutlich zu machen; die Unsicherheit, die ihnen Angst macht, den Hass – auf das Naziregime, auf die Alliierten und auf sich selbst und die eigene Machtlosigkeit.
Die jugendlichen Figuren wirken einerseits deplatziert in dieser verdorbenen Welt, andererseits bewegen sie sich ganz natürlich in ihr und offenbaren den Lesenden Zugänge durch seltsam abgeklärte Augen, die sich an einen letzten Rest einer fast gänzlich zerstörten Naivität klammern.
Den Ansatz eines Liebesdreiecks zwischen Marie, Schorsch und Gustla hätte es allerdings nicht gebraucht. Vielleicht wollte Boie hiermit die jugendlichen Leserinnen und Leser ansprechen, vielleicht brauchte sie den Subplot auch, um dafür zu sorgen, dass die Wege der Akteurinnen und Akteure sich möglichst organisch kreuzen; letztlich wirkt der Handlungsstrang aber eher verloren und verläuft sich auf unrunde Weise im Nichts.
Boie schreibt nüchtern, abgeklärt, intim. Manchmal lässt sie die einzelnen Fragmente zu ähnlich klingen, da verschwimmen die Montagen zu sehr und es wird deutlich, dass es nicht Boies eigene Geschichte ist, die erzählt wird.
Anders als beispielsweise David Safir in 28 Tage lang wird die deutsche Vergangenheit nicht über eine nahbare Heldin und einen bis zum Zerreißen gespannten Handlungsfaden aufgebaut, sondern durch einzelne Fragmente, die sich erst nach und nach verweben – um dann, ganz leise, im Stillen, ein Gesamtbild zu ergeben, das genau wegen dieser Stille fast noch verstörender ist. Ein Sinnbild ist sie, die Stille, für einen Teil unserer Geschichte, über den in diesem Kontext selten gesprochen wird. Über den nie zufriedenstellend gerichtet wurde. Und der zu vergessen, auszuradieren versucht wird – von den damaligen Bewohnerinnen und Bewohnern Penzbergs, die am nächsten Morgengrauen noch schnell die gehängten Leichen von den Dächern nehmen, bevor das Licht des Tages die Ereignisse der Nacht zu sehr erhellen kann, und auch von der heutigen Bürgerschaft, die nahezu alles, was mit den Ereignissen in der Nacht auf den 29. April in Berührung kam, niedergerissen hat.
Doch genau das darf nicht geschehen, wie Kirsten Boie in ihrem beklemmenden Nachwort deutlich macht: Die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes dürfen nie vergessen werden.
Fazit
Dunkelnacht ist ein eindrucksvolles und berührendes Buch. Beeindruckend ist vor allem die Prägnanz, mit der Boie erzählt und die Recherchearbeit, die sie geleistet hat. Sprach- und inhaltlich wird das Buch zurecht erst ab 14 Jahren empfohlen, ab da aber nahezu uneingeschränkt, sobald man sich einen Zugang in die vor allem anfangs doch recht widerständige Erzählweise verschaffen konnte.
- Name: Kirsten Boie