Inhalt
Nova Breitenbacher wagt mit ihrer Mutter Bekki, ihrem kleinen Halbbruder Cosmos und den beiden Meerschweinchen Mandu & Mr Shandu einen Neuanfang: Nachdem Nova von ihrem gewalttätigen Stiefvater Marcus verletzt wurde, packt Mutter Bekki endlich die Koffer und zieht mit den Kindern in die Berliner Wohnung ihrer besten Freundin Lotte. Der Tapetenwechsel beginnt für alle zunächst verheißungsvoll und heilsam: Während die Mutter sich ihrer Alkoholsucht stellt und eine neue Arbeit findet, überwindet Cosmos seine Schlafprobleme und das nächtliche Bettnässen. Die Ich-Erzählerin Nova findet hingegen nicht nur neue Freunde wie die tierliebende und non-binäre Figur Felix*, sondern verliebt sich Hals über Kopf in die Hip-Hop-Tänzerin Akoua. Die intensive und romantische Lovestory der beiden scheint perfekt, bis Nova plötzlich wieder mit ihrer schmerzhaften Vergangenheit konfrontiert wird und sich in Wut und dunklen Gedanken zu verlieren droht: Marcus hat die Familie aufgespürt und wickelt Mutter Bekki erneut um den Finger. Nova und Cosmos bleibt nur noch die Flucht – wie gut, dass sie auf die Hilfe ihrer besten Freunde und Akoua zählen können!
Kritik
Die Spoken-Word-Künstlerin Chantal-Fleur de Sandjon schafft mit ihrem innovativen Versroman den Spagat zwischen Tradition und Aktualität: Einerseits stellt sie sich mit diesem Genre in die Traditionslinie des mittelalterlichen Epos‘, in dem für gewöhnlich die Liebe zu einer höfischen Dame und die Abenteuer eines ritterlichen Helden besungen werden. Andererseits aktualisiert die Autorin den Versroman nicht nur mit ihren visuellen Formspielen, sondern stellt mit der Ich-Erzählerin Nova eine starke weibliche, queere und afrodeutsche Protagonistin ins Zentrum ihrer Coming-of-Age-Geschichte. Nova ist leidenschaftliche Rollkunstläuferin, liebt Tiere und hat, wie viele Jugendliche, Schulprobleme. Zuhause muss die 9.-Klässlerin aber schon früh sehr selbständig und erwachsen agieren, wenn sie z. B. ihren Halbbruder Cosmos in den Schlaf wiegt oder die Weinflaschen ihrer alkoholkranken Mutter vom Vorabend wegräumt. Das Erwachsenwerden ist bekanntermaßen mit Identitätskonflikten verbunden, die durch Novas Homosexualität noch verschärft werden: Mit ihrer ersten Freundin Akoua schwebt die Protagonistin auf Wolke 7, aber die Beziehung muss aufgrund der homophoben Eltern von Akoua zunächst geheim bleiben. Durch die Ich-Perspektive erhalten die Leser*innen tiefe Einblicke in die Gefühlswelt von Nova, die ihre Erlebnisse in kurzen, tagebuch-ähnlichen Einträgen vermittelt. Authentizität und Unmittelbarkeit des Geschehens werden durch dialogische Sequenzen sowie jugendsprachliche und subkulturelle Elemente (z. B. Hip-Hop) unterstützt. Überhaupt sorgt die formale Gestaltung des Romans für ein besonderes Leseerlebnis, denn die Versform beschleunigt die Lektüre, während gängige Leserichtungen und -gewohnheiten durch das Spiel mit visuellen Formen oft buchstäblich durchkreuzt werden: Beim Lesen erfordern Durchstreichungen, Einrückungen, Stufen- und Figurengedichte sowie (typo-)graphische Hervorhebungen zuweilen ein Drehen des Buches oder stellen gar die gesamte Schrift auf den Kopf (vgl. S. 192-195). Diese formale Gestaltung der lyrischen Texte trägt insbesondere zur Veranschaulichung von Novas Emotionen und von zentralen Metaphern bei, etwa wenn die kreisförmig angeordnete Schrift wie im folgenden Beispiel nicht nur dazu dient, Novas sehnsüchtiges und monotones Warten auf Akoua – ihrer Sonne – zu vergegenwärtigen, sondern auch ihre kreisenden Bewegungen auf Rollschuhen um die Eisdiele abbildet (vgl. S. 102):
Darüber hinaus ist die im Romantitel erwähnte Sonne in jeder oberen Seitenecke abgedruckt und zieht sich (also auch auf visueller Ebene) als Leitmotiv durch den gesamten Text. Bildhaft kann die Sonne für die starke Protagonistin Nova stehen – zumindest bezeichnet sie ihre Freundin Mitra so –, wird von der Ich-Erzählerin selbst aber überwiegend für die geliebte Akoua verwendet (S. 40):
Während sich die Hauptfiguren vor allem durch ihre Komplexität und Tiefe auszeichnen, erscheint der Bösewicht Marcus als deutscher Ottonormalverbraucher mit "Harry Potter-Gesicht" jedoch nur schemenhaft. Insgesamt verzichtet der Roman auf (handlungsmächtige) Männerfiguren, um vor allem weiblichen, vielfach diskriminierten Akteurinnen eine Stimme zu geben. Eine von ihnen ist Novas Mutter Bekki, die unter den Aggressionen von Marcus leidet. Gewalttätige Handlungen werden innerhalb des Romans nicht geschildert, geht es doch wohl eher darum, die (seelischen) Folgen und Ängste der Betroffenen zu zeigen, aber auch Auswege und Heilung in Aussicht zu stellen. Entsprechend sind im Anhang des Romans wichtige Links und Hilfetelefone aus dem deutschsprachigen Raum abgedruckt, die im Falle von häuslicher Gewalt Unterstützung anbieten.
Außerdem wird Novas afrodeutsche Familie häufig mit (Alltags-)Rassismus konfrontiert. Beispielsweise wundert sich eine Ärztin beim Anblick von Nova über den deutschen Nachnamen ‚Breitenbach‘ oder ist nach Entfernen des Gipses überrascht, "dass vier Wochen Dunkelheit auch [Novas] Arm verblassen lassen" (S. 92) – eine Bemerkung, auf die Nova lediglich in Gedanken humorvoll kontern kann: "Ja, ich brauche Sonne / ich bin doch kein Vampir" (S. 92). Die Protagonistin setzt sich aber auch aktiv für die Rechte der People of Color ein, wenn sie z. B. mit Akoua nach Hamburg reist, um an der Mahnwache für den unschuldig von Polizisten ermordeten Tonou Mbobda teilzunehmen. Der Roman bezieht sich auf die realen Ereignisse aus dem Jahr 2020 und zitiert die Rede von Aretha Schwarzbach-Apithy, einer zentralen Akteurin der antirassistischen Community. Insofern trägt der Text zur Wissensvermittlung bei und kann als Ausgangspunkt für die kritische Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus dienen und/oder zur Identifikation einladen.
Fazit
Mit ihrem gesellschaftskritischen und empowernden Adoleszensroman sensibilisiert Chantal-Fleur de Sandjon ihre Leser*innen für verschiedenste Formen der Diskriminierung (z. B. Homophobie, Rassismus) und scheut sich nicht davor, auch sensible und meist tabuisierte Themenfelder wie häusliche Gewalt oder Alkoholismus anzusprechen, mit denen sich die Protagonistin Nova konfrontiert sieht. Darüber hinaus bietet der Versroman ein besonderes Leseerlebnis: Die visuelle Poesie steigert nicht nur die Lesefreude, sondern unterstützt das Eintauchen in die Gefühlswelt der Ich-Erzählerin Nova – ein absolut preiswürdiger Jugendroman für Leser*innen ab 14 Jahren.
- Name: de Sandjon, Chantal-Fleur