Inhalt / Kritik

Märchen haftet oft eine gewisse Zeitlosigkeit an, unabhängig davon, ob sie wie die bekannten Grimm‘ schen Märchen in einer nicht näher bestimmten Vergangenheit angesiedelt sind oder – wie hier – in einer fernen Zukunft. Bei den Future Fairy Tales handelt es sich, so die Erzählfiktion, um eine Jubiläumsausgabe einer bekannten Märchensammlung anlässlich des 1000jährigen Jubiläums der Gutenbergpresse im Jahre 2440. Auf die auch heute schon häufig bang gestellte Frage, ob es das Medium Buch in so ferner Zukunft überhaupt noch geben wird, gibt der Text bereits auf der ersten Seite eine Antwort: "Vermutlich habt ihr gerade zum ersten Mal in eurem Leben ein Buch aufgeschlagen. Willkommen in einer neuen Welt!" (S. 6) Aber natürlich ist das, was folgt, alles andere als ein Abgesang auf das gedruckte Buch. Im Gegenteil, die Freude am Lesen und am Schreiben zieht sich als Motiv durch alle Erzählungen des Bandes. Bei diesen handelt es sich um Adaptionen bekannter Märchen der Brüder Grimm mit ein paar Abstechern zu Perrault, die in den unterschiedlichsten Genres und Formen variiert werden. So wird aus Dornröschen etwa der deutlich an Perrault erinnernde Titel "Die Schlafende und der Jüngling", der das in der Science Fiction beliebte Motiv der Kryonik aufnimmt. Statt in einen totenähnlichen Schlaf zu fallen, wird die todkranke Dawn Rose Sheen mittels modernster Technik eingefroren und erwacht schließlich – in einer Reality Show, in der der zuvor gecastete junge Mann sie publikumswirksam mit einem Kuss erwecken soll.

Das Unterlaufen der Erwartungen an tradierte Märchenplots gehört zur Methode der Sammlung, ebenso wie die begleitenden Kommentare der "Herausgeberin" Raleigh-Joya Hada (eine von mehreren Erzähl-Personae der Autorin Rahlens), die den extrafiktionalen Lesenden durch ihre Erklärungen Hinweise auf die fiktive Gegenwart geben. Aus diesen Kommentaren erschließt sich nach und nach ein Bild der Zeit, in der die Jubiläumsgabe erscheint, und das ist alles andere als positiv. Die Welt erholt sich gerade von einem völligen technologischen und ökologischen Zusammenbruch (dem sogenannten Dark Winter), der mit verheerenden Waldbränden und Epidemien einherging und zu tief greifenden gesellschaftlichen Umwälzungen führte. Die Märchen, die vor diesem Hintergrund spielen, sind dennoch nicht durchgängig düster, sondern häufig parodistisch und voller ironischer Anspielungen auf die extrafiktionale Gegenwart der Lesenden – wobei es sich bei der letzteren Form übrigens um eine typische Form des "Reformierten Standardhochdeutsch Plus (Leipziger Schule) des späten 21. Jahrhunderts" handelt, die sich laut Anmerkung der Future Fairy Tales "besonders allergisch gegen die Verwendung des generischen Maskulinums" zeigte (S. 9) – hier dürfen sich manche, nun ja, Lesende wohl augenzwinkernd angesprochen fühlen. Des Weiteren erfährt man von der Aufspaltung der Gesellschaft in die technikaffine rationalistische Kultur der Urbanites, die infolge des gemeinschaftlich orientierten "Illeismus" vollkommen auf das Personalpronomen Ich verzichten, und die der zurückgezogen lebenden Forester, die sich durch eine naturnahe und familienorientierte Lebensweise auszeichnet, in der auch Emotionen weiterhin eine Rolle spielen.

Erfahrene Rahlens-Lesende werden hier aufmerken und tatsächlich verweist eine Leseprobe am Ende der Ausgabe von Future Fairy Tales auf den bereits 2012 erschienenen Zeitreiseroman Everlasting – Der Mann der aus der Zeit fiel, der die eigentlich unmögliche Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mann aus der Urbanite-Kultur und einer jungen Frau des 21. Jahrhunderts erzählt. Die zehn Jahre später erschienenen Märchen entwickeln jedoch viele Aspekte der Zukunftsvision in Everlasting weiter und werfen vor allem einen deutlich moderneren Blick auf das Verhältnis und Verständnis von Gender.

Tatsächlich spielen die Märchen gerne mit etablierten Erwartungen an Geschlechterrollen, ohne jedoch völlig frei von Klischees zu sein. Das glückliche Ende geht in der Regel doch immer wieder mit der Gründung einer Familie durch den/die Protagonist/in einher, auch wenn diese nun nicht mehr auf die heterosexuelle Kernfamilie reduziert wird. Trotzdem macht es Spaß, von Märchenheldinnen zu lesen, die sich einmal nicht in den Prinzen verlieben, sondern ein anderes Mädchen, das ihre Interessen teilt, oder einem Froschkönig, der so ganz anders ist als in der Grimm‘schen Version.

Dass Märchen auch traumatische Erlebnisse und Abgründiges vermitteln können, zeigt die Rotkäppchen-Variante "Der Wolf im Wald", die das Thema der sexualisierten Gewalt aufnimmt und zugleich das Märchenschreiben als bibliotherapeutische Maßnahme präsentiert. Tatsächlich lesen sich die Future Fairy Tales auch als eine Feier der Form des Märchens und seiner Wandelbarkeit, die bei Weitem nicht ausgeschöpft wird. So hätte man sich gewünscht, das Kapitel "Der Spuk im Bed & Breakfast" sei Teil eines außerfiktional existierenden Thrillers, in dem die untote Hexe Tabitha Wick sich auf die Suche nach ihren möglichen Mördern, einem Geschwisterpaar namens Hans und Gretel, begibt. An manchen Stellen schlagen die Erklärungen der Herausgeberin freilich um in glattes Eigenlob, wenn etwa das Vlog-Transkript "Geburt einer Influencerin" im Nachwort zum "Kleinod", einer "erfrischenden Nacherzählung des Grimm’schen Märchens Sterntaler" erklärt wird (S. 247) oder "Susis süße Smoothies" als "[d]iese hinreißende wie in seiner Schlichtheit raffinierte Nacherzählung eines der kürzesten, aber humorigsten Märchen der Brüder Grimm, Der süße Brei" eingeführt wird (S. 180). Dieses wenngleich ironisch gebrochenen Eigenmarketings hätte es gar nicht gebraucht, um die Lesenden von dem hohen Unterhaltungswert von Rahlens futuristischer Märchenkontrafaktur zu überzeugen.

Fazit

Die Future Fairy Tales von Holly Jane-Rahlens bieten eine unterhaltsame und anspielungsreiche Lektüre für Märchenbegeisterte ab ca. 12 Jahren. Ob die, zweifellos verdiente, Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis auch zu einer Auszeichnung führt, wird wohl die nicht ganz so ferne Zukunft zeigen.



Titel: Future Fairy Tales. Geschichten aus einer anderen Welt
Autor/-in:
  • Name: Holly-Jane Rahlens
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: Future Fairy Tales
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Rowohlt
ISBN-13: 978-3-499-00635-7
Seitenzahl: 272
Preis: 25
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Holly-Jane Rahlens: Future Fairy Tales