Inhalt
Nach Aufenthalten in Pflegefamilien und Heimen zieht die vierzehnjährige Franka in eine Wohngruppe für vernachlässigte Jugendliche nach Walburgen. Unter der Leitung des Ehepaars Vera und Andreas Kämpf wachsen in diesem Wohnprojekt Kinder und Jugendliche heran, die von ihren Eltern vernachlässigt und misshandelt worden sind. Für Franka bedeutet dies eine große Umstellung, kommt sie doch aus Berlin und lernt nun das ländliche Leben in Sachsen-Anhalt kennen. Franka lebt sich rasch in die illustre Gemeinschaft ein. Insbesondere mit den Zwillingen Ann und Lizzi verbindet sie schnell eine Freundschaft, während sie ein besonderes Interesse für den wenige Jahre älteren Ricardo hegt. Zwar wohlgesonnen, aber weniger sympathisch erscheint ihr zunächst Matthias.
In der Schule sind die Jugendlichen aus Haus Eulenruh verrufen. Dort werden sie – bis auf eine Ausnahme – von den Mitschüler*innen argwöhnisch beobachtet und vor allem mit üblen Sprüchen konfrontiert. Die selbstbewusste Franka weiß sich jedoch zu verteidigen. Mit ihrer unkonventionellen Art trifft sie zwar auf Sympathie im Heim, in der Schule aber spaltet sie die Gemüter.
Doch Franka beschäftigt vielmehr die Tatsache, dass mysteriöse Vorkommnisse stattfinden. Menschen verschwinden: Was hat der Elektrozaun zu bedeuten? Wissen die anderen Bewöhner*innen mehr als sie? Mit detektivischem Gespür will sie den Mysterien auf den Grund gehen. Vor allem die abgesperrte Ruinenlandschaft am Waldrand gibt ihr Rätsel auf. Was hat der Elektrozaun um Haus Eulenruh zu bedeuten? Warum werden die Bewohner*innen während des Stromausfalls so nervös? Was verbirgt sich hinter dem sogenannten Unland? Als schließlich Matthias und Ricardo einer Straftat bezichtigt werden, die sie nicht begangen haben, wächst die Gemeinschaft zusammen und geht dem Rätsel auf die Spur.
Kritik
Der Jugendroman Unland. Lasst die Schatten frei erschien bereits 2009 und erhielt ein Jahr später den ver.di Literaturpreis. Der Roman gilt als vergriffen und ist unlängst vom Ulrike Helmer Verlag neu aufgelegt worden. Autorin Antje Wagner hat den Text aktualisiert und an die heutige Zeit angepasst. Die Wiederentdeckung des Romans ist aus mehrerlei Gründen lohnenswert. Von Beginn an hält die Autorin die Spannung sehr hoch: Die junge Franka zieht in ein betreutes Wohnheim. In dieser geographischen Abgeschiedenheit lernt sie weitere Jugendliche kennen. Ausschließlich aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Franka werden die Leser*innen die gar nicht so heile Welt Eulenruhs eingeführt. Auch bietet diese Perspektive einen gewissen Grad an Unzuverlässigkeit, da rasch klar wird, dass mit dem mysteriösen Unland etwas nicht stimmt. Und warum sind die anderen Jugendlichen Lizzi, Ann, Matthias und Ricardo hier? Welche tragische Vergangenheit haben sie hinter sich?
Kundige Leser*innen der Jugendromane von Antje Wagner ahnen, dass es sich um eine Außenseiter*innen-Geschichte handelt. Mit viel Empathie zeichnet der Text sehr individuelle Figuren, die gemeinsam nicht nur ein mysteriöses Abenteuer erleben, sondern die sich auch in der Gesellschaft behaupten müssen. So werden sie wegen ihres Andersseins vor allem in der Schule mit Vorurteilen und Beschimpfungen seitens der Mitschüler*innen und sogar seitens Lehrer Kolb konfrontiert. Der Ort Schule wird dabei weder verteufelt noch beschönigt. An manchen Stellen gibt es überdies blitzlichtartige Einblicke in die Vergangenheit der Jugendlichen, die von ihren Eltern teils massiv misshandelt worden sind. Neben der mysteriösen Handlungsebene bietet der Jugendthriller auf einer weiteren Ebene auch viel Gesellschaftskritik, indem Genderrollen, Anderssein sowie der Umgang mit Vorurteilen verhandelt werden. Der Roman ist eine Absage an das sogenannte „Normale“ und eine Bejahung des Verschiedenseins, also von Diversität. Besonders anschaulich wird dies etwa in der Metaphorik eines Waldes. Als Franka sich die verschiedenen Bäume im Wald anschaut, hält sie fest: „Ich nickte und in diesem Moment fiel mir plötzlich die Ähnlichkeit auf. Die Ähnlichkeit mit uns im Eulenhaus. Wir waren alle total verschieden.“ (S. 178)
Mit Franka lernen die Leser*innen eine ebenso selbstbewusste wie kluge und nachdenkliche Ich-Erzählerin kennen, die insbesondere in optischer Hinsicht sämtliche Genderklischees bricht und gerade wegen ihres Andersseins trotz einiger Reibungen schnell Freundschaften im Haus Eulenruhschließt. Der Roman betont stark das Zwischenmenschliche in all seinen Facetten: Lockere und feste Freundschaften, Verständnis und Unverständnis, Streit und Mobbing.
Fazit
Antje Wagner gelingt ein Jugendthriller, der nicht nur den Anspruch hat, spannungsreich zu unterhalten, sondern auch Probleme vernachlässigter Jugendlicher gesellschaftskritisch zu verhandeln. Dennoch ist es gerade dieses unheimlich wirkende Setting in und um Unland, das den Roman so kurzweilig macht. Gelungen ist überdies, dass die kluge, unkonventionelle Ich-Erzählerin eine Identifikationsfigur für viele Jugendliche darstellt, die eng gefassten Norm- und Wertvorstellungen nicht entsprechen und/oder aus prekären familiären Verhältnissen stammen. Umso begrüßenswerter ist es, dass jenen jugendlichen Figuren hier eine Stimme gegeben wird. Zu empfehlen ist die Lektüre für Jugendliche ab 14 Jahren.
- Name: Wagner, Antja