Inhalt
Karim – ein palästinensischer Junge – ist fast jeden Freitag dabei, wenn Jugendliche Steine auf die Mauer werfen, die das Westjordanland vom israelischen Staatsgebiet trennt. In einem Wehrturm an dieser Mauer ist die junge israelische Soldatin Anat eingesetzt. Sie ist gelangweilt von ihrem Dienst und versteht nicht, warum ‚kleine Terroristen‘ die Wehranlagen angreifen, die für die Sicherheit der Israelis sorgen. Mit Blick auf die Bewohner des Aida-Flüchtlingscamps in Bethlehem, denkt sie darüber nach, wann erfahrenes Unrecht wohl vorbei sein könne. Die meisten Bewohner seien doch bereits dort geboren. Das trifft auch auf Karim zu. Sein Großvater ist 1947 als Jugendlicher von Jerusalem dort hingezogen, nachdem dessen Vater bei dem Anschlag einer zionistischen Untergrundorganisation ums Leben gekommen und der Staatsgründung Israels.
Die Erzählung springt mit den nächsten Kapiteln in diese Zeit und erzählt die Geschichte des jugendlichen Mo. Dass er Karims Großvater ist, ist bald zu ahnen, denn es wird erzählt vom Tod des Vaters beim gegen die englischen Besatzer gerichteten Anschlag auf das King David Hotel. Dann wird ausgeführt, wie Mo als ältester Sohn der Familie zu ihrem Beschützer und Ernährer werden muss, dass seine Mutter den Umzug nach Bethlehem beschließt und sein Onkel ohne das Wissen von Mos Familie das Haus in der Jerusalemer Altstadt verkauft.
Kapitelweise wechselt sich diese Erzählung mit der von Tessa ab, die 1947 illegal nach Palästina einreist. Sie ist fünfzehn und hat – anders als ihre Mutter – mehrere Konzentrationslager überlebt. In einem DP-Camp wurde ihr von der Hagana angeboten, sie zu ihrem Vater zu bringen, der schon in den 1930er Jahren als Zionist nach Palästina auswanderte, um dort die Errichtung eines jüdischen Staates zu unterstützen. Tessas Freude, wieder bei ihm sein zu können, ist allerdings getrübt, da er sich mehr für Politik als für sie zu interessieren scheint. Er ist in der Irgun tätig, einer jüdischen Untergrundorganisation, die nicht nur Attentate auf die britischen Besatzer verübt, sondern auch jegliche Kooperation mit den Arabern ablehnt.
Die Wege von Mo und Tessa kreuzen sich mehrfach. Das erste Treffen am Tag, nach dem die UN den Teilungsplan für das Gebiet Palästina verkündet hat, ist nur kurz und zufällig, lässt aber schon erkennen, dass zwischen den beiden mehr steht als das, was diesen Tag prägt: die Freude auf jüdischer Seite über die Möglichkeit, einen jüdischen Staat neben einem arabischen gründen zu können, und der Zorn über die Gebietsverluste, dem die Araber an diesem Tag freien Lauf lassen. Dass ihr erstes Treffen ohne Gewalt endet, ist fast ein kleines Wunder. Aber genau das ermöglicht es ihnen, beim zweiten zufälligen Treffen miteinander ins Gespräch zu kommen und dass eine eigentlich unmögliche zaghafte Freundschaft entstehen kann. Diese entwickelt sich trotz der vielen Konflikte und Erfahrungen, die die beiden gegen die jeweils andere Volksgruppe aufbringen. Sie treffen sich auf den Dächern der Altstadt, wo sie zuerst Haus an Haus wohnen und wo sie erkennen, dass Tessas Vater ausgerechnet das Haus von Mos Familie gekauft hat. Eine nahezu magische Stimmung herrscht in diesen Nächten, in denen sich ein wechselseitiges, nicht immer gelingendes Verstehen zwischen den beiden anbahnt, obwohl die Zeit von Gewalt und gegenseitigen Anschuldigungen geprägt ist.
In den Dialogen, die von Vorurteilen und Stereotypen gekennzeichnet sind, erkennen sie Trennendes, aber auch Gemeinsames. Sie haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wem Palästina rechtmäßig gehören sollte, wie das Land nach dem Abzug der Briten organisiert werden oder wer auch in anderen Gebieten der Welt angstfrei leben könnte. Dennoch verbindet sie die Erfahrung des gewaltsamen Todes jeweils eines Elternteils. Und so bleibt die fragile Verbindung zwischen den beiden bestehen, obwohl sie von Entdeckungen, Vermutungen und gegenseitigen Vorbehalten bestimmt bleibt, bis der erste arabisch-israelische Krieg ein Wiedersehen unmöglich macht.
Wenn die Erzählung wieder in die Gegenwart springt, wird deutlich, wie stark auch 75 Jahre später das Leben der jüdischen und der palästinensischen Bevölkerung immer noch von dem Grundkonflikt geprägt ist, dass es keine für beide Seiten akzeptable Staatenlösung oder eine Friedensordnung gibt. Als Karim Anat aus einer mehr als misslichen Situation rettet, lernen die beiden sich kennen. Aus Dank bewahrt Anat Karim, der bei einer Demonstration festgenommen wurde, wenig später vor einer Bestrafung als ‚terroristischer Steinewerfer‘ in Israel. Bei dieser Gelegenheit entdeckt Karim, dass Anat ausgerechnet in dem Haus lebt, aus dem seine Vorfahren 1947 geflohen sind und dass Anats Großmutter Tessa seinen Großvater Mo kannte. Viele Schwierigkeiten müssen aus dem Weg geräumt werden, bis es zu einem Wiedersehen von Mo und Tessa bei einem gemeinsamen Abendessen kommen kann. Dabei zeigt sich, dass zwar „sogar Hummus (…) politisch“ sein kann, aber ein friedvolles Mahl dennoch möglich ist, wenn man es im Mondschein auf dem „Dach des Hauses, das das Zuhause einer Familie war und das Zuhause einer anderen Familie ist“ schafft, gemeinsam zu schweigen und „nicht über Politik zu reden.“ (S. 320)
Kritik
Die Handlung ist von zahlreichen Zufällen bestimmt. Das wirkt zwar konstruiert, stört den Lesegenuss aber nicht. Vielmehr schafft genau das eine spannungsreiche Erzählung mit dem Potential, den Nahostkonflikt mit seinen Wurzeln und Dilemmata multiperspektivisch darzustellen und ein Verstehen der Positionen anzuregen. Für die Zusammentreffen der Figuren nutzt der Roman vor allem die Dächer als Raum außerhalb des konfliktreichen Alltags. Tessa und Mo finden hier trotz ihrer so unterschiedlichen Lebenswelten glaubhaft im Gespräch zusammen. Sie werden auch immer wieder an Orten und in Situationen gezeigt, die für den grundlegenden Konflikt zwischen den jüdischen Israelis und den palästinensischen Geflüchteten zentral sind, so sind die historischen Darstellungen durchgehend mit der zaghaften Freundschafts- oder Liebesgeschichte verknüpft. Das erzeugt Spannungsbögen, die den Roman zu einem kurzweiligen Leseerlebnis werden lassen.
Für die Leserinnen und Leser bietet die Figurenkonstellation ein vielfältiges Perspektivenspektrum. Sowohl für die israelische wie für die palästinensische Seite werden sogar innerhalb der Familien Positionen sichtbar, die von religiös-fundamentalistisch bis liberal-ausgleichend denkend gehen. Die vier Identifikationsfiguren sind oft selbstironisch gezeichnet, was dem Text mit dem schwierigen Thema eine gewissen Leichtigkeit gibt. Sie machen durch den Kontakt mit Menschen, die sie zuvor als Feinde wahrgenommen haben, Entwicklungen durch, die zu anderen Wertorientierungen führen. Dabei geben sie ihre Meinung und politische Haltung nie grundlegend auf, aber sie erkennen, dass auf beiden Seiten Menschen leben, deren Leben es zu achten und deren Verhalten es zu verstehen gilt.
Die Dialoge zwischen den Figuren entlarven bei den Sprechenden die wechselseitigen Vorurteile, religiösen Aufladungen und bei einigen auch ihre potentielle Gewaltbereitschaft. Sie sind zwar weniger literarisch ausgestaltet als manches Mal auch klischeehaft Stereotpye wiederholend. Doch lässt gerade das auch erkennen, wie beide Konfliktparteien ihre Ansprüche aus gewachsenen Argumenten und tradierten Vorurteilen ableiten.
„“Die Juden sagen, sie waren zuerst hier, dabei leben die meisten von ihnen erst eine oder zwei Generationen hier. Ich und meine Familie, wir haben seit Jahrhunderten auf diesem Land gelebt. Bis jüdische Soldaten uns vertrieben haben!“
„Haben wir euch denn vertrieben? Die meisten von euch sind doch freiwillig gegangen und wollten woanders abwarten, bis die arabischen Armeen das ‚Judenproblem‘ gelöst hätten und ihr wieder in eure ‚judenfreien‘ Städte zurückkehren könnt.!“ (…)
„Das Problem ist doch, dass ihr das ganze Land für euch haben wollt! Für einen jüdischen Staat! Ohne Rücksicht auf all die Menschen, die schon hier lebten, Christen und Muslime. Ihr wollt das Land doch am liebsten christen- und moslemfrei haben!“ (…) „Schon mal was von der Balfour-Erklärung gehört? Darin hat uns der britische Außenminister Arthur Balfour zugesichert, uns bei der Errichtung eine Heimstätte im ‚Mandatsgebiet Palästina‘ zu unterstützen! Sie tat als sei Palästina ein Fantasiename. (…) „Schon mal was vom McMahon-Hussein-Briefwechsel gehört? Oder vom Sykes-Picot-Abkommen? Die Britten haben auch allen Arabern das versprochen (…)“ (S. 245)
Insgesamt muss die Figurensprache als literarischer Versuch betrachtet werden, für jede Seite im Konflikt mit nachvollziehbaren historischen Belegen zu begründen, warum Palästina als ‚ihr Land‘ gelten muss. Die historischen Hintergründe des Nahost-Konfliktes werden dabei auf plausible und zugängliche Weise in die Gespräche integriert: angefangen mit der Zerstörung des jüdischen Tempels in Jerusalem und der Vertreibung der Juden durch die römische Besatzungsmacht über die Religionsstiftung Mohammeds bis zur Zeit der osmanischen Herrschaft; das Taktieren der Kolonialmächte in der Region bis zum Verhalten der Briten, die nach dem Ersten Weltkrieg Palästina als Mandatsgebiet verwalteten. Beide Perspektiven gleichwertig abzubilden, was bedeutet, viele historische Details erklärend miterzählen zu müssen, ist ästhetisch und literarisch eine ungeheure Herausforderung. Darin mag sich die Autorin, die bislang als Journalistin und Sachbuchautorin bekannt ist, ein bisschen viel vorgenommen haben. Gleichzeitig gibt ihr die Fiktionalisierung aber die Möglichkeit, in der Handlung auf der Vergangenheitsebene für ihre Leserinnen und Leser die Zeit der Staatsgründung Israels anschaulich zu vergegenwärtigt und die Auswirkungen bis in die Gegenwart zu verdeutlichen.Die Gegenwartsebene nimmt durch kleine Hintergrundinformationen auch Einzelaspekte der Zwischenzeit auf, wie die Intifada oder der Sechs-Tage-Krieg, so dass auch die Zeit zwischen den Zeiträumen, in denen die Handlungen angesiedelt sind, nicht außen vor bleibt Inhaltlich ist es dabei zwar schade, dass Versuche der friedlichen Lösung des Konfliktes, wie etwa das Camp-David-Abkommen oder der Friedensprozess von Oslo in der Romanhandlung nicht beleuchtet werden. Letztlich wäre es aber unmöglich, den gesamten Verlauf des Nahostkonflikts in eine Romanhandlung zu integrieren. Vielmehr ist es Anja Reumschüssel gelungen, die Komplexität des Konfliktes zu reduzieren, ohne die Situation unangemessen zu vereinfachen. Die Fokussierung auf die Figuren und ihre Lebensräume bietet mit den perspektivierten Rückblicken, die in die Gespräche eingestreut sind, eine schlüssige Darstellung, um die Geschichte des Nahostkonflikts als ein Dilemma zu interpretieren, in dem Schuldzuweisungen sowie das Erzwingen einer Ein-Staaten-Lösung durch eine der Konfliktparteien nicht die Lösung sein können.
Fazit
Der erste Roman von Anja Reumschüssel kann Jugendlichen – der Verlag empfiehlt die Lektüre zurecht erst ab 14 Jahren – aber auch Erwachsenen dabei helfen, die Komplexität des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern zu verstehen. Er macht die Geschichte des Nahostkonflikts greifbar, indem er eine spannende und einfühlsame Familien-, Abenteuer- und Adoleszenzgeschichte erzählt, die das Handeln und die Erfahrungen von Menschen in der Vergangenheit und der Gegenwart nachvollziehbar werden lässt.
Angesichts der gegenwärtigen Situation sollten junge Leserinnen und Leser mit der Lektüre nicht allein gelassen werden. Der Roman empfiehlt sich deshalb insbesondere für Gesprächskreise oder für fächerübergreifende Unterrichtsprojekte am Ende der Sekundarstufe I. Dabei sollte verdeutlicht werden, dass der Versuch, beide Perspektiven zu verstehen, nicht einschließt, für ein menschenunwürdiges oder terroristisches Verhalten Verständnis haben zu müssen, dass es zwischen der Situation in Gaza und der im Roman fokussierten Situation im Westjordanland durchaus Unterschiede gibt und dass Geschichte auf beiden Seiten als Rechtfertigung für gegenwärtiges Handeln und für politische Entscheidungen genutzt wird.
- Name: Reumschüssel, Anja