Inhalt
Das essayistische Sachbuch enthält zum Großteil bereits in Zeitungen publizierte Aufsätze, die vielfältige Kontexte des Judentums beleuchten. Im ersten Kapitel skizziert Wolffsohn (W.) kurz die Eroberung von Judäa durch die Römer und die darauffolgende Diaspora seit 70 n. Chr.. Hierbei setzt er die Leserin bzw. den Leser auch über den namentlichen, biblischen und historischen Ursprung des Judentums in Kenntnis. Darüber hinaus konstatiert W., dass der Davidstern zwar kein genuines und von den Juden erfundenes Symbol sei, jedoch als archaisches Schutzzeichen von Juden im 19. Jahrhundert als eigentümliches Zeichen auch in Abgrenzung zu dem islamischen Halbmond und dem christlichen Kreuz ausgewählt wurde. Einen weiteren zentralen Unterpunkt bildet die Bewegung des Zionismus, die laut W. durch den Holocaust einen zentralen Legitimierungsgrund erhielt. Als besonders lohnend erweist sich die Erklärung um die Entstehung der viel diskutierten "Judensäue" an den Außenfassaden von christlichen Kirchen, welche folgende höchstproblematische Aussage transportierten: "Das Schweine-Tabu der Juden wäre Heuchelei, und ‚die‘ Juden letztlich selbst Schweine. Von der Wittenberger Judensau schwärmte noch Martin Luther. Kürzer als der zeitliche ist der bildliche Sprung von der Judensau zum NS-Hetzblatt ,Stürmer'" (S. 27). Stringent weist Wolffsohn nach, dass die Diskriminierung von Juden in Karikaturen bis in die Gegenwart vorherrsche, und nennt als interessantes Beispiel eine polarisierende Netanjahu-Karikatur einer großen Tageszeitung aus dem Jahr 2018. Besonders erhellend ist in diesem Kontext zudem, wie W. nachvollziehbar darlegt, dass sich Zerrbilder von jüdischen Bürgern bis in die Gegenwart unbewusst fortsetzen, nicht nur in Filmen, sondern auch auf Regierungsebene. Diese Zerrbilder changierten stets zwischen Zerr- und Idealbild eines Juden, der immer wieder zur moralischen Instanz erhoben worden sei. Die fehlende bildende Kunst des Judentums aufgrund der strengen Auslegung der Bibel vor der Säkularisierung verstärke diese Unsicherheit der öffentlichen Darstellung von Juden.
Im zweiten großen Kapitel setzt sich W. mit dem Thema Antisemitismus auseinander. Dabei gibt er einen historischen Grundriss von der Antike bis zur Postmoderne. Hierbei erläutert er, weshalb Juden in der Antike zu Feinden der Ägypter wurden und wie sich Antisemitismus bis in die Moderne u.a. aufgrund der sehr erfolgreichen und ca. 2500 Jahre alten Leistungs- und Schultradition des Judentums fortsetzt, die nach Meinung des Autors nicht selten Neider auf den Plan gerufen habe und weiter rufe. Anhand der Documenta 2022 zeigt W. plausibel und gekonnt verknappt auf, wie sich Ikonographie aus dem "Stürmer" der NS-Zeit bis in die Gegenwart anhand von "BDS"-Sympathisanten erstreckt.
In seinem dritten Kapitel geht W. auf das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland ein. Dabei stehen politisch aufgeheizte Themen wie das Versagen Deutschlands im Gaza-Krieg von 2014 und deutsche anti-antisemitische Symbolpolitik im Fokus. Darüber hinaus verweist W. auf den Irrglauben mancher Menschen, sie würden das Judentum durchdringen, wenn sie architektonisch hipp gestaltete jüdische Museen besuchen, was nur als erster Schritt zum Verständnis für das Judentum, nicht aber als einzige Berührung nicht für ein tieferes Verständnis für das Judentum ausreiche (vgl. S. 96-105).
Im vierten Kapitel übt W. Kritik an den Vorgehensweisen der deutschen Erinnerungskultur und problematisiert das in seinen Augen euphemistische Wort für schrecklichste und barbarische Verbrechen. Hierbei fordert er dazu auf, sich anhand der Erinnerungen von gestern Gedanken um ein menschliches Zusammenleben von morgen zu machen, um interreligiöse Brücken zu bauen. Zudem vertritt W. entschieden die Auffassung, dass sich die deutsche Erinnerungpolitik eher gegen das Verdrängen der Nazizeit und das Verherrlichen von Megaverbrechern als gegen den zu abstrakten Begriff des Vergessens richten solle (vgl. S. 120-123).
Um konstruktive Friedenslösungen im Israel-Palästina-Konflikt bemüht sich W. in seinem fünften Kapitel "Friedenslösungen". Hierbei macht er deutlich, dass er keinen Sinn in einer Zwei-Staaten-Lösung sehe, sondern eher in der Konzeption eines föderalistischen Staates. Zum aktuellen Israel-Hamas-Konflikt bezieht W. dadurch Stellung, dass er die Ziele der Hamas als verkappte Ziele des judenfeindlichen Iran enttarnt. Insgesamt gebe es für die Zukunft nur zwei Lösungen, welche sich entweder um eine weitere Gewaltspirale oder um einen selbstbestimmten föderalistischen Ansatz mit dem Staatenbund Israel-Palästina drehen.
Im abschließenden kurzen Ausblick formuliert W. den Appell, die Hoffnung auf ein gelingendes Zusammenleben nicht aufzugeben, und setzt auf Kompromissfähigkeit, indem er auch das teilweise pöbelhafte Gehabe von orthodoxen Juden stark kritisiert.
Kritik
Insgesamt ist anhand dieses Sachbuchs ein Potpourri aus den unterschiedlichsten zentralen Themen rund um das Judentum entstanden, das einen weiten Bogen vom Beginn der Diaspora bis zu den Problemkomplexen der Gegenwart spannt. Die einzelnen Essays und Aufsätze zeugen von großem und fundiertem Wissen über das Judentum. Die Thesen sind pointiert, zugespitzt und eingängig, wie die Leserschaft dies von dem prominenten und sehr angesehenen Autor kennt. Die unterschiedlichen Zugriffsweisen auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Judentums im Kontext von Deutschland und international bezeugen eindrucksvoll, dass es ggf. doch Kompromisslösungen für den Israel-Palästina-Konflikt gibt, die W. als prometheischer Wissenschaftler und Historiker vordenkt. Der einzige Kritikpunkt am Werk sind die gelegentlich auftretenden Redundanzen, die zwangsläufig aufgrund der teilweise ähnliche Aspekte enthaltenden Einzelartikel entstehen. Zugleich bleiben dadurch die zentralen Ansichten und Appelle des Autors gut im Gedächtnis. Als besonders positiv ist neben dem tiefschürfenden und kompromissbereiten Inhalt auch das Layout hervorzuheben, das sich ‒ graphisch wunderbar umgesetzt ‒ des Symbols des Granatapfels bedient, der mit seinen unzähligen Kernen religöse Grundsätze des Judentums symbolisch widerspiegelt. Der Verlag hat gut daran getan, das den Juden auch im negativsten Kontext oktroyierte Symbol des Davidsterns zu vermeiden. Die klare Gliederung dieses Sachbüchleins ermöglicht eine treffsichere Auswahl für Vermittlerinnen und Vermittler von Themen über das brisante Thema Judentum.
Fazit
Summa summarum ist ein fundiert-essayistisches Sachbuch für alle entstanden, die sich für einen historisch und politisch reflektierten jüdischen Standpunkt zum Hamas-Konflikt interessieren und die durch die Aufarbeitung einer jüdischen Geschichte von über 2000 Jahren gut informiert wissen möchten, wie es zu einer Renaissance des Judenhasses gekommen ist und wie man dem entgegenwirken kann. Dabei sind die Sachverhalte gut nachvollziehbar auch für Jugendliche ab ungefähr 12 Jahren erklärt. Dieses einzigartige Buchprojekt über aktuelle jüdische Tendenzen und Statements zum Anti- und Philosemitismus und zum Israel-Hamas-Konflikt ist ein klarer Gewinn nicht nur für Pädagoginnen und Pädagogen, sondern auch für interessierte Jugendliche selbst.
- Name: Wolffsohn, Michael