Inhalt

Harry Hodby, der aus der Ich-Perspektive berichtende Protagonist und ein aufmerksamer Beobachter seiner Umwelt, ist 14 Jahre alt. Er verbringt seine Jugend in den 1960er Jahren in einer namenlosen Kleinstand am Rande eines Flusses. Hierbei schildert er in Schlaglichtern die Herausforderungen seines von Katastrophen geprägten Lebens, aber auch die kleinen glücklichen Momente, die sich ihm bieten. Harry bildet zusammen mit seinem jüngeren Bruder Keith und seinem Vater eine Familie, die sich gegenseitig Halt gibt – insbesondere nachdem die Mutter bei einem Unfall ums Leben kam. Als auch noch seine Schulfreundin Linda bei einer Überschwemmung verunglückt, gehört der Umgang mit dem Tod und die Trauerbewältigung zu Harrys Entwicklungsaufgaben. Sinnbild für das Leben wird der Fluss (englischer Originaltitel „By the river“) – der sowohl zerstörerisch sein kann als auch friedlich und stetig in seinem Flussbett fließt. Zwischen Monotonie und Chaos bewegt sich auch Harrys Gefühlswelt: Während der Vater viel im örtlichen Eisenwerk arbeitet, sind die beiden Brüder weitgehend selbstständig, treiben umher und suchen nach Beschäftigungen. Sie sammeln Golfbälle aus dem See, beobachten Wayne mit seinen Liebschaften oder zünden Böller. Die Jugend fühlt sich hier an wie Abwarten: Warten, um endlich erwachsen zu werden und auszubrechen. Besonders das beengende soziale Gefüge der Kleinstadt, das durch Verurteilungen geprägt ist, erweckt immer wieder das Verlangen zur Flucht. In dieser Dazwischen-Zeit, in der Harry kein kleiner Junge aber auch noch kein Mann ist, eröffnen sich ihm typische Erfahrungsräume wie Verliebtsein, Liebe und Eifersucht, Feindschaft und Freundschaft. So muss Harry erleben, wie sein Schwarm, die junge Lehrerin Miss Spencer, von Wayne Barlow erst schwanger wird, dann ihre Stelle verliert und aus der Stadt zieht, während er zu Waynes Bruder Jonny Barlow eine tiefe Verbundenheit entwickelt, die am Grab ihrer gemeinsamen Freundin Linda ihren Anfang findet. Am Ende findet der Protagonist das kleine Glück in der Gesellschaft seines Bruders und Vaters bei dem gemeinsamen Ritual – dem Schneiden und Essen einer Melone.

Kritik

Der außergewöhnliche Versroman Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen (2018) von dem australischen Autor Steven Herrick überzeugt durch seine besondere Poetizität und konnte an den Erfolg des Debütromans Wir beide wussten, es war was passiert (2016) anschließen. Er erhielt 2019 unter anderem den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte 'Jugendbuch' und den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis. Unter kurzen Titelüberschriften, die sich jeweils sieben Kapiteln zuordnen, erscheinen kurze, chronologisch geordnete Sequenzen, die Harrys Leben und seine Gedanken abbilden und die sich nie über mehr als zwei Seiten erstrecken. Durch die Versform werden die eigentlich epischen Texte zergliedert, wodurch die Rezeption entschleunigt und den einzelnen Worten mehr Kraft verliehen wird. Oft laufen diese episodischen Texte, die mit ihrer lyrischen Sprache eindrucksvolle Bilder zeichnen und von Uwe-Michael Gutzschhahn feinfühlig ins Deutsche übersetzt wurden, auf eine Pointe, Frage oder Erkenntnis hinaus. So erkennt Harry mehr und mehr den Verlust seines Vaters und bemerkt am Morgen seines Geburtstages:

„Und egal

wie jung oder alt du bist –

an deinem Geburtstag

solltest nicht du

Frühstück machen.

Nicht in dem kalten Dunkel.

Nicht an einem Montag.

Nicht allein.

Nicht ohne jemanden,

den du liebst,

jemanden,

der dich liebt.“

Gleichsam erzeugen die kurzen Sinneinheiten eine hohe Dynamik, sodass sich das Buch nach einer kurzen Gewöhnungszeit an den Rhythmus zügig lesen lässt.

Die hier rezensierte Neuauflage verwendet als augenscheinlichste Veränderung ein neues Cover. Statt der schwarzen, stilisierten Gestaltung eines Flusses nur durch Wellenlinien, zeigt das Bild nun ein Mädchen im violetten Bikini, das sich im dunkelblauen Wasser treiben lässt. Grellgrüne rahmende Pflanzenelemente lassen das Cover grundsätzlich heiterer erscheinen als die Erstkonzeption. Vermutlich soll der Roman damit für die Zielgruppe (Jugendliche ab 14 Jahre) zugänglicher erscheinen, auch wenn das erste Design deutlich treffender die Stimmung des Buches einfängt.

Fazit

Der vielseitig gelobte und prämierte Roman gibt einen Einblick in die Lebenswelt des Jungen und spiegelt Themen des Heranwachsens gefühlvoll aber nicht sentimental wider, wobei Form und Inhalt in besonderer Weise schlüssig ineinandergreifen. Am Ende steht die Offenheit. Wie wird Harry, der die Bedeutung seiner Familie in den kleinen Ereignissen – wie dem gemeinsamen Essen einer Wassermelone – nachspüren kann und sich in einem langen, noch anhaltenden Prozess von seiner Mutter und Freundin verabschiedet, in die Zukunft gehen, wenn Zugewinne und Verluste doch bezeichnend für das Leben scheinen?

Geeignet ist das Buch für Jugendliche ab 14 Jahren, die sich mit dem Protagonisten und seinen Themen identifizieren können. Eine didaktische Begleitung bei der Erschießung erscheint durch die unkonventionelle Gestaltung des Textes besonders relevant, da diese ungewohnt und herausfordernd sein könnte. Eine entschleunigte Rezeption und ein Austausch im literarischen Gespräch können an die vielen Leerstellen anschließen und individuelle wie kollektive Deutungen ermöglichen.

Titel: Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen
Autor/-in:
  • Name: Steven Herrick
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: By the River
Übersetzung:
  • Name: Uwe-Michael Gutzschhahn
Erscheinungsort: Stuttgart
Erscheinungsjahr: 2024
Verlag: Thienemann
ISBN-13: 978-3-522-20303-6
Seitenzahl: 240
Preis: 17,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre
Herrick, Steven: Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen