Inhalt
Der auf wahren Begebenheiten beruhende Roman erzählt in 15 nicht chronologischen Kapiteln von Pauls letzten Lebensjahren. Der Einser-Schüler ist eher still und zurückgezogen. Von seinem Freund Noah hat er sich während der Pubertät zunehmend entfremdet. Paul wächst behütet auf, seine Mutter kümmert sich um ihn und seine Schwestern, während sein Vater lange Arbeitstage bestreitet. Zur Oberstufe wechselt er auf ein Internat in Japan. Er freut sich auf Aikido, Pokémon und traditionelle japanische Bräuche und ist enttäuscht, als er feststellt, dass internationale Schüler*innen kaum Kontakt zu den japanischen Jugendlichen haben. Auch sein Kontakt zu anderen internationalen Jugendlichen ist spärlich. Sich ein Zimmer im Internat zu teilen, wird für Paul zum Albtraum. Im Laufe der Zeit verschlechtert sich sein Zustand und Paul beginnt, sich selbst zu verletzen. Mithilfe von Amazon-Bestellungen bereitet er seinen Suizid vor, der jedoch misslingt, woraufhin Paul zurück nach Deutschland in eine Klinik gebracht wird. Dort erfährt er, dass er das Asperger-Syndrom hat. Nach dem Aufenthalt geht es ihm augenscheinlich besser. Doch während Pauls Eltern Hoffnung schöpfen, verabschiedet ihr Sohn sich von alten Freund*innen. Nach einigen Wochen verschwindet er spurlos, sein Körper wird eine Woche später gefunden. Ab diesem Zeitpunkt wird die Handlung ausschließlich von Pauls Leidensgenoss*innen Lien und Alina, von Noah und Pauls Eltern erzählt. Die Romanhandlung wird von Hinweisen des Autors auf Hilfsangebote für depressive und suizidale Menschen sowie ihre Angehörigen gerahmt, ein umfassendes Nachwort klärt über die Motivation und Entstehung auf und thematisiert die Stigmatisierung des Themas Suizid im Jugendalter.
Kritik
Alle Farben grau erzählt depressive Episoden verständlich und mit den Berichten Betroffener übereinstimmend. Der Protagonist klagt über eine Stimme in seinem Kopf, die alles und vor allem ihn schlecht rede – als Lesende erfahren wir durch kursiv gesetzte innere Monologe von dieser Stimme. Durch sie erscheint Pauls Welt zunehmend als „Grau, grau, grau […] Alle Farben grau“ (S. 222). Paul verliert zunehmend Hoffnungen, Pläne und Träume für die Zukunft, was rapide Leistungseinbrüche in der Schule, Drogenmissbrauch und Narben an seinen Armen nach sich zieht. Der Roman vermittelt durch unterschiedliche Erzählperspektiven – mal wird Pauls Erleben fokalisiert, mal die Wahrnehmung anderer Jugendlicher oder Erwachsener – sowohl Jugendlichen als auch Lehrkräften ein genaueres Bild der Krankheit und ihrer Lebensbedrohlichkeit. Auch Hilfsmaßnahmen wie Therapien und Antidepressiva werden thematisiert und durch die wertfreien Beschreibungen entstigmatisiert. Die Depression wird in Alle Farben grau mit Pauls Autismus in Zusammenhang gebracht. So vermittelt der Roman nicht nur ein Bild der Autismus-Spektrums-Störung, sondern zeigt auch auf, wie diese Depressionen bedingen und verstärken kann, ohne Stereotype zu reproduzieren. Fast beiläufig werden mögliche Probleme einer fehlenden Anerkennung der eigenen Gender-Identität thematisiert. Nur Noah scheint bewusst zu sein, dass Paul „eher so der non-binäre Typ“ (S. 123) war. Wie wichtig der Einfluss der Schule, von Lehrkräften und der Klassengemeinschaft ist, zeigen die Reflexionen Noahs, der beschreibt, dass es in der Schule bis zur Oberstufe feste Hackordnungen statt einer richtigen Gemeinschaft gegeben hätte, die keine emotionale Unterstützung bieten konnte (vgl. S. 125). Durch das Aufgreifen dieser Thematik bieten sich viele Anknüpfungspunkte für Gespräche im Klassenverband an, welche die Relevanz von Zusammenhalt und Fürsorge betonen.
Paul und seine Geschichte bieten eine Identifikationsfläche für die Generation Z der oberen Mittelschicht. Noch immer werden Depressionen und Suizide stigmatisiert und gelten in der Gesellschaft als Makel, obwohl die Zahl der betroffenen Jugendlichen seit der Pandemie gestiegen ist. Alle Farben grau rückt diese Themen in eine bürgerliche Welt, die sonst häufig Schauplatz von Idylle und Perfektion ist, in den Vordergrund: „Jedem kann es Scheiße gehen.“ (S. 161). Die Identifikation mit den Romanfiguren und Nähe zur Realität von Jugendlichen wird zudem durch häufige intertextuelle Verweise auf zeitgenössische Literatur, Filme wie Fast & Furios und Musik von Billie Eilish unterstützt. Der Weg zum Suizid wird in den verschiedenen Kapiteln aus den Perspektiven der Figuren beleuchtet. Da von Anfang an erzählt wird, dass Paul sich das Leben bereits genommen hat, ist der schreckliche Ausgang für die Leser*innen aushaltbarer. Dieser wird auch nicht weiter thematisiert, stattdessen stehen Pauls Erzählungen von seinen Erfahrungen mit der Depression im Vordergrund. Seine Freund*innen und Eltern reflektieren in Rückblenden vergangene Situationen, die nach Pauls Tod eine besondere Bedeutung für sie bekommen haben. Sie erzählen von den Gefühlen der Überlebenden: Von Schuld, Verzweiflung und der großen Wut auf Paul, dem doch alle Türen offenstanden, der alles konnte, außer eins: „das Leben fiel ihm schwer“ (S. 255). All diesen unterschiedlichen Gefühlen wird Raum gegeben. Der Suizid wird im Roman als vermeidbare Folge einer ernstzunehmenden psychischen Erkrankung inszeniert, die durch frühere Diagnosen, Fachwissen und Unterstützungsangebote in der Schule und zu Hause und offene Kommunikation hätte vermieden werden können. Er erscheint nicht als Freitod und kommt so seiner Verantwortung nach, keine Nachahmungssuizide, keinen ‚Werther-Effekt‘, auszulösen, wie heroisierende Darstellungen es können. Damit bietet er eine Grundlage für ein vorurteilsfreies Gespräch über Suizidgedanken und Suizide.
Fazit
Der Roman ist als Lektüre für alle ab 14 Jahren zu empfehlen. Pauls Lebenswelt stimmt mit der Erfahrungswelt von Mittel- und Oberstufenschüler*innen überein und ist aufgrund der Ereignisse, die in diesem Lebensabschnitt auftreten, wie der Konfirmation, einem Auslandsjahr oder der Auseinandersetzung mit Sexualität, für Jugendliche dieses Alters nachvollziehbar. Insbesondere als Schullektüre ist der Roman geeignet, da er Gesprächsanlässe über den Zusammenhalt im Klassenverband, das Erkennen von depressiven Erkrankungen bietet und ermöglicht, das Thema Suizid im Jugendalter zu entstigmatisieren.
1 Czaplicki, Andreas (2020): Deutschland-Barometer 2020. Via: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/deutschland-barometer/2020 (zuletzt aufgerufen: 02.01.2024)
- Name: Martin Schäuble