Inhalt

„I’ll die happy tonight.“ (Lana Del Rey) Dieses vorangestellte Zitat kündigt die folgende Szene an: Wir werden als Lesende in ein Auto zu Ich-Erzähler Kester katapultiert, der 17-jährig im Wagen seiner Freundin Blanka unterwegs nach Hamburg ist. Dann kommt eine Baustelle, Kester reißt das Lenkrad herum und die Welt gerät in den „Schleudergang“ (S. 14). Doch dann kommt auf grauem Papier gedruckt die Reflexion der Szene aus dem Off, jenseits von Raum und Zeit – soll es wirklich so enden oder doch nicht? „Also, noch mal von vorn…“ (S. 19). Es folgt die letzte Nacht als Volksfest-Version, in der Kester den Unfall überlebt und in den Bunker, einem Club in Hamburg, tanzen gehen will. Doch der Eintritt wird ihm vom Türsteher verwehrt. Stattdessen trifft er Bruno, einen Mann, der behauptet sein Schutzengel für diese Nacht zu sein, und Kim, die als Soldatin bald in Litauen stationiert werden soll. Während er Bruno als Spinner abtut, zieht Kester mit Kim über das Volksfest. Sie schießen, rauchen, trinken und philosophieren über das Leben. Irgendwann endet die Begegnung mit einer kleinen blauen Pille, die Kester sich einwirft. Doch endet diese Nacht wirklich so, als Drogenleiche in der Elbe? Noch einmal wird im Zwischenkapitel reflektiert und neu gestartet. Nach Kim trifft Kester Lenny, in seinen schillernden Klamotten und mit lackierten Fingernägeln beim Leergutsammeln. Mit Lenny hat Kester gute Gespräche, unter anderem über Gott und Engel, aber auch unangenehme Momente mit ein paar Milchgesichtern im Trainingsanzug, die sie verfolgen und angreifen. Infolgedessen wechselt eine Pistole die Seiten und sie werden im Viertel verfolgt. Die Episode endet in einem Theater mit Kester hinter der Scheibe und einem Schlägertrupp davor. Doch sogleich startet die Geschichte ein drittes Mal mit Christina, der Karrierefrau, die gerade gefeuert wurde und Kester in ein Striplokal zieht. Kester erkennt dort, was er eigentlich will, verlässt Christina und trifft sich erneut mit Bruno, um in den Bunker zu kommen. Dort, wo die Nacht der Nächte zu einem fulminanten und überraschenden Ende kommt.

Kritik

Aber geht es hier eigentlich um die Handlung? Um die geschickt ineinander gewebten Episoden, die von Kesters Begegnungen mit drei sehr unterschiedlichen Menschen handeln, der Kämpferin, dem Künstler und der Karrierefrau? Oder um die Frage nach der Existenz von Schutzengeln? Geht es nicht viel mehr um die Reflexion von dem, was im Leben wichtig ist, was das Leben ausmacht, woran man glaubt? Und das ist etwas, das uns alle angeht; Kester, der nach dem Abitur nichts mit sich anzufangen weiß, genauso wie Blanka, die sich aufgrund einer Diagnose mit dem Lebensende beschäftigen muss. So erzählt Kester: „Ich habe das Gefühl, Blanka ist auf der Suche, ohne selbst genau zu wissen, wonach.“ (S. 136) Die Nacht der Nächte wird zu einer Gratwanderung zwischen Leben und Tod. Die Figuren im Buch machen Begegnungen mit Personen, die ihr Leben beeinflussen, treffen Entscheidungen und manchmal erleben sie auch Bewahrung. Entsprechend gibt es in den Dialogen, Monologen oder Bewusstseinsströmen genug Stoff zum Nachdenken über den eigenen Sinn im Leben und über Liebe, Glaube und Hoffnung.

Dabei wird filmisch erzählt, manche Stellen werden gerafft und zusammengefasst, andere länger auserzählt. Geschickt wird gegen Ende des Buches vom Präsens ins Futur I gewechselt werden, so bekommen die Ereignisse den Charakter von Vorhersehbarkeit: „Lenny wird verschwinden […], und Bruno wird auftauchen. Ich werde im dunklen Foyer stehen.“ (S. 163). Ein wenig erinnert das Buch dabei an den Film „Lola rennt“ von Tom Tykwer, in dem auch verschiedene Versionen einer Geschichte ausgeführt werden. Doch ein Nils Mohl wäre nicht Nils Mohl ohne weitere zahlreiche literarische und mediale Anspielungen (die man entdecken oder auch nicht entdecken mag). So bekommt der Schutzengel den Namen „Bruno“, welcher wiederum auf Bruno Ganz verweist, den Hauptdarsteller im Film „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders.

Sprachlich hat dieses Buch ebenfalls einiges zu bieten. Mal im Staccato-Ton mit vielen Ellipsen („Abwechslung wäre schön. Ablenkung auch.“ S. 13), mal mit fast überbordenden sprachlichen Bildern („Als unsere Gruppe bei der Exkursion in dem Viertel ankommt, wo der Bunker steht, treiben über uns am Himmel üppige Wolken träge dahin, hingekleckst ins ungetrübte Blau wie frische Sahne.“, S. 135) oder Sprachspielen („Du tanzt das!“, S.73) ist diese Erzählung auch sprachlich vielseitig. Viele Sätze und Gedanken sind wirklich zum Einrahmen. Der Stoff, aus dem gute Geschichten sind. Mein Favorit: „Lesen ist wie Tanzen im Kopf.“ (S. 136) Und genauso fühlt man sich auch beim Lesen dieses Buches, das mal an Schnelligkeit und Tempo im Erzählen zulegt, dann wieder anhält, um in Ruhe über etwas nachzudenken.

Dazu ist der Roman auch in der episodenhaften Struktur und den Wiederholungen so aufgebaut, dass jede neue Version von der Geschichte beim Lesen tiefere Einblicke in die Motive von Kester und Blanka bereithält und jede Begegnung neue Erkenntnisse bietet. Oder besser gesagt: „Wiederholungen sind nicht langweilig. Manche Dinge werden erst schön, wenn man sie sehr, sehr oft gemacht hat.“ (S. 184) Am Ende eröffnet sogar sich noch einmal eine ganz neue Perspektive auf die Geschichte.

Fazit

Dem ungewöhnlichen und eher selten in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur zu findenden Thema der Engel stellt Nils Mohl in seinem Buch die brutale Realität des Erwachsenwerdens und der Suche nach Orientierung oder Lebenssinn am Ende der Schulzeit entgegen. Das macht er formal wie sprachlich geschickt und schafft so ein Leseerlebnis, das Jugendliche ab 14 Jahren abholt, einholt und (durch die verschiedenen Perspektiven) weiterbringt, im Denken und im Fühlen.

Also nochmal von vorn, denke ich als Leserin und beginne das Buch von neuem.

Titel: Engel der letzten Nacht
Autor/-in:
  • Name: Nils Mohl
Erscheinungsort: Frankfurt am Main
Erscheinungsjahr: 2024
Verlag: Rotfuchs
ISBN-13: 978-3-7571-0192-3
Seitenzahl: 224
Preis: 17,90 €
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre
Mohl, Nils: Engel der letzten Nacht